Die zweite Wirklichkeit
jetzt wurde ihr bewußt, daß die Freundin schon seit gut einer Minute schwieg. Eine Minute, in der Lilith in ihrem Gesicht vermutlich tausend Dinge gelesen hatte.
»Doch, schon«, erwiderte Marsha lahm. »Es ist nur .«
»Das alles klingt wie die Geschichte einer Wahnsinnigen, nicht wahr?«
Marsha zuckte unbehaglich die Schultern, wand sich, verzog die Lippen. »Nun .«
»Was?«
»Ja«, seufzte Marsha.
»Ich hab's befürchtet«, ächzte Lilith resignierend.
Ihre Freundin hob beschwörend die Hände: »Lilith, ich möchte dir ja glauben. Und ich tue es auch - irgendwie. Du mußt mir nur zugestehen, daß das nicht so ganz einfach ist.«
Lilith schluchzte trocken.
»Ich weiß ja selbst nicht, ob ich meinen eigenen Worten glauben darf - und meinen Gedanken und Erinnerungen. Ich kann nicht mehr unterscheiden zwischen Traum und Wirklichkeit. Beides scheint mir echt. Und irgendwie weiß ich trotzdem, daß beides falsch sein muß - der Eindruck ändert sich mit jeder Sekunde. Oh, Marsha, es ist so grauenvoll!«
Das Mädchen warf sich weinend zurück und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Marsha wartete eine kleine Weile, dann berührte sie Li-lith an der Schulter und bedeutete ihr, aufzusehen.
»Wie glaubst du, daß ich dir helfen könnte, Lilith?«
»Ich habe Angst, daß der Traum weitergehen könnte. Oder vielleicht auch nur von neuem beginnt und noch wirklicher wird«, antwortete sie mit zitternder Stimme.
»Und du möchtest deshalb nicht einschlafen?«
Lilith nickte. »Ich bitte dich, mir zu helfen, wachzubleiben.«
Marsha lächelte aufmunternd. »Okay, laß es uns versuchen.«
Die beiden Mädchen suchten nach Möglichkeiten, sich abzulenken. Sie spielten Scrabble, lagen auf Liliths Bett und redeten über hundert Dinge, über Jungs, über wahrgewordene Phantasien und solche, die es noch werden mochten.
Gleichzeitig schliefen sie schließlich ein.
Marsha erwachte als erste.
*
Marsha fuhr hoch, als schreckte sie aus einem leichten Dösen auf. Doch sie wußte, daß sie geschlafen hatte, tief und fest. So wie Lilith es neben ihr noch immer tat.
Der Gedanke, daß genau das eingetreten war, was sie hatten verhindern wollen, beunruhigte Marsha allenfalls eine Sekunde lang. Dann war er schon fort, wie weggeblasen - von dem, was sie geweckt hatte .
Ein schauerliches Stöhnen geisterte durch die Dunkelheit. Marsha konnte sich nicht erinnern, das Licht gelöscht zu haben. Vielleicht hatten Liliths Eltern es getan. Es war egal. Etwas anderes war um vieles wichtiger.
Erregt leckte Marsha sich die Lippen. Ihre Zunge kam ihr anders vor, rauh, fast hornig. Dann verging der Eindruck. Alles schien wieder beim alten. Aber sie wußte, daß es nur so schien. Spätestens in dem Moment, da sie auf Lilith hinabsah, beobachtete, wie die Freundin sich auf dem Laken wand und stöhnte, leise und jämmerlich.
»Gut so«, grinste Marsha.
Dann wandte sie sich ab. Sie war nicht erwacht, um Lilith beim Träumen zuzusehen. Auf sie wartete eine andere Aufgabe.
Nicht einmal sonderlich vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett, lief in das silberne Rechteck, in dem sich das Mondlicht, das durchs Fenster hereinfiel, auf dem Fußboden sammelte. Neben der Scheibe verhielt Marsha, schob den Vorhang eine Winzigkeit zur Seite und sah hinaus.
Eine milchige Aura lag dort unten im Garten über allem. Die Schatten verloren im wie flüssig wirkenden Licht des Mondes ihre Tiefe, so daß nichts und niemand sich darin verbergen konnte.
Marsha sah ihn sofort, obwohl er sich nicht bewegte. Wie eine Statue, die Teil des Gartens hätte sein können, stand er dort unten in der vermeintlichen Deckung eines Strauches. Sein Gesicht war für Marsha über die Entfernung nur eine graue Fläche, dennoch spürte sie, daß er heraufsah - und sie nahm seine Spannung wahr. Als würde er auf etwas warten. Oder auf jemanden .
Marsha lächelte maliziös.
Seine Geduld würde belohnt werden. Reich belohnt.
Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
*
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit hatte der junge Mann die hohe Mauer überklettert, die das Grundstück 333 an der Paddington Street einfriedete.
Seither wartete er, ohne zu wissen, worauf. Er würde es wissen in dem Moment, da es geschah. Was auch immer es war. Wie er so viele Dinge in den vergangenen Stunden einfach gewußt hatte, wenn es vonnöten gewesen war, während andere, die zuvor einmal wichtig gewesen waren, kurzerhand dem Vergessen anheimgefallen waren.
Dinge wie Pflichtbewußtsein und
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