Die zweite Wirklichkeit
Verantwortung beispielsweise. Er hatte nie geglaubt, daß ihm irgendwann einmal irgend etwas wichtiger sein konnte als diese. Es war einfach geschehen. Und er nahm es hin. Weil ihm keine Wahl blieb. Die Bedeutung des Begriffs »Berufung« definierte sich ihm seit dem Morgen in anderer, neuer Weise.
Der junge Priesteranwärter wußte nicht, wie viele Stunden er nun schon hier im Schutz eines Strauches ausharrte. Er machte sich auch nicht die Mühe, auf die Uhr zu sehen. Als könnte ihn selbst dieser winzige Moment der Unaufmerksamkeit von etwas ungleich Wichtigerem ablenken. Statt dessen sah er unverwandt zu jenem Fenster auf, hinter dem er sie wußte - einfach wußte.
Wenngleich er über sie selbst nichts wußte. Nur, daß sie eines jener Mädchen war, für die er zumindest darüber hätte nachdenken können, seine Entscheidung für das Priesteramt zu revidieren. Wenn die Situation eine andere gewesen wäre; wenn sie selbst eine andere gewesen wäre.
Er verbannte die müßigen, fruchtlosen Gedanken aus seinem Kopf, versuchte sich von neuem in jenen Zustand zu versenken, der an Trance erinnerte, seine Aufmerksamkeit aber selbst für die geringste Veränderung um ihn her unangetastet ließ.
Doch so ganz gelang es ihm nicht, das Bild des schwarzhaarigen Mädchens aus seinem Kopf zu tilgen.
»In einem anderen Leben vielleicht ...«, bemühte er traurig lächelnd eine uralte Floskel.
Dann spannten sich sein Körper und sein Geist innerhalb eines einzigen Sekundenbruchteils als Reaktion auf eine - Bewegung?
Ja!
Aber sie war nicht dort oben am Fenster entstanden, das er die ganze Nacht über nicht aus den Augen gelassen hatte. Dort drüben beim Haus bewegte sich etwas, schattenhaft und doch hell, beinahe bleich. Gras raschelte unter leichtfüßigen Schritten.
Und dann sah er sie.
Lilith ...
Ein passender Name. Denn sie war schön wie die Sünde.
Schön und nackt. So kam sie auf ihn zu. Mit wiegenden Hüften, jede Bewegung ihres herrlich proportionierten Körpers eine Verlockung. Ihr schwarzes Haar schien im leichten Nachtwind ein betörendes Eigenleben zu entwickeln. Und Duncan glaubte selbst über die Entfernung den süßen Duft ihrer milchigen Haut zu riechen.
Drei oder vier Schritte vor ihm blieb sie stehen, die Hände flach an die Hüften gelegt, den Kopf ein kleines bißchen schief haltend. Ihre Zunge tanzte für die Dauer eines Lidschlags über dunkle Lippen und legte einen silbrigen Schimmer darauf, der sich im Nachtwind verflüchtigte.
Der junge Priester-Aspirant konnte nichts anderes tun, als sie ansehen. Er konnte förmlich spüren, wie eine unsichtbare Mauer in ihm zu bröckeln begann. Das Mädchen erschien ihm in diesem zeitlosen Moment schlicht - anbetungswürdig. Und sie sprach zu ihm:
»Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.«
Duncan fiel nieder .
*
Lilith erwachte - und fuhr erschrocken auf!
»Marsha?«
Ihre Augen brauchten ein, zwei Sekunden, um sich mit dem Mondlicht begnügen zu können. Suchend sah sie sich um. Keine Spur von Marsha. Lilith war allein. Wieder rief sie nach der Freun-din, ein wenig lauter diesmal, doch abermals erhielt sie keine Antwort.
Vielleicht war Marsha in die Küche hinuntergegangen, um sich etwas zu trinken zu holen. Sie kannte sich aus in diesem Haus, es war beinahe ihre zweite Heimat, so viel Zeit verbrachte sie hier.
Lilith lief zur Tür, öffnete sie, streckte den Kopf durch den Spalt.
»Marsha?« flüsterte sie noch einmal.
Nichts.
»Aaahhh!«
Jemand hatte Lilith angestoßen. Oder war es nicht eher ein Sog gewesen, der sie erfaßt und zur Tür hinausgezerrt hatte?
Sie war nicht sicher, aber sie dachte auch nicht länger darüber nach, denn ihre Umgebung beanspruchte jedes Quentchen ihrer Aufmerksamkeit. Weil es nicht der Flur im Obergeschoß ihres Elternhauses war, in den Lilith hineingerissen worden war, sondern etwas - - ganz anderes!
Etwas Fremdes, Unheimliches, Sinnverwirrendes, Wahnsinnigmachendes!
Verwinkeltes Mauerwerk, das in Farbe und Konsistenz an faulendes Fleisch erinnerte, dabei wie unter innerer Glut pulsierend. Treppen, die in schwindelerregenden Winkeln in alle möglichen und alle unmöglichen Richtungen führten. Dunkel klaffende Öffnungen, die ins Nirgendwo oder auf unerklärliche Weise hierher zurückzuführen schienen.
Lilith keuchte entsetzt auf.
Der bloße Anblick dieses bizarren Labyrinths genügte, um ihren Verstand in wildem Galopp auf einen Abgrund zuzutreiben, aus dem es keine
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