Die zweite Wirklichkeit
halsbrecherischen Manövern pflügte der Fahrer durch den Verkehrsstrom. Hinter ihnen quietschten Reifen, krachte und splitterte es, wenn andere Fahrzeuge auswichen und kollidierten.
»Sind Sie verrückt geworden?« schrie Peter Metters, mehr entsetzt denn energisch.
»Schnauze!« fuhr ihn der junge Bursche an.
»Halten Sie an, bitte!« kreischte Eva. Sie wollte über die Sitzlehne nach dem Fahrer greifen, doch der zog das Taxi gerade in eine enge Kurve, und die junge Frau wurde von der Fliehkraft regelrecht gegen Tür und Fenster geschleudert.
Irgendwie mußte sie dabei unglücklich gegen die Verriegelung gestoßen sein. Die Tür schwang auf, und Eva wurde förmlich aus dem im Höllentempo dahinrasenden Fahrzeug gerissen.
Hinter ihnen jaulten abrupt bremsende Reifen.
Peter Metters wußte, daß es unmöglich war. Trotzdem hörte er das dumpfe Geräusch - knirschend, feucht - mit dem ein nachfolgendes Auto über Eva hinwegrollte ...
Sekundenlang war er unfähig, irgend etwas zu sagen, geschweige denn zu tun.
Dann endlich kehrte das Leben in ihn zurück.
»Stopp!« brüllte er. Gleichzeitig warf er sich vor, glitt irgendwie mit dem Oberkörper über die Sitzlehne vor ihm hinweg und versuchte dem Fahrer ins Steuer zu greifen. »Halten Sie an, Sie Irrer! Sofort!«
Eine Hand wühlte sich in Peter Metters Haar, zog ihn unbarmherzig noch weiter vor, bis sein Kopf fast die Ablage vor dem Beifahrersitz berührte. Dann riß der Fahrer den Kopf des anderen hoch, drosch ihn wieder nach unten. Und wieder. Und wieder ...
Peter Metters hatte längst aufgehört zu schreien, als der Taxifahrer ihn losließ. Mit der Hand wischte er notdürftig die roten Spritzer von der Innenseite der Frontscheibe.
»Verdammte Sauerei«, knurrte er angewidert.
Aber es war nicht die Zeit, sich mit solcherlei Bagatellen aufzuhalten. Er wurde erwartet.
Wenig später stoppte er den Wagen bei der Adresse, die er an diesem Morgen schon einmal angefahren hatte.
Hector Landers stieg ein, nachdem er den Toten achtlos vom Beifahrersitz gezerrt hatte.
»Ich nehme an, Sie kennen unser Ziel?« fragte er.
Nick Parker nickte und fuhr los.
»333, Paddington Street.«
*
New Jericho, South Dakota
Hidden Moon wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sie hatte in seinem Leben nie eine wirkliche Rolle gespielt, und sie tat es auch jetzt nicht. Obwohl das Entsetzen tief in ihm saß, rumorte und wütete, ließ er sein Tun nicht von Hektik bestimmen.
Zumindest äußerlich ruhig und gelassen hatte er seine Untersuchungen an Lilith ein ums andere Mal wiederholt. Hatte er gewissenhaft nach Lebenszeichen geforscht, denn sie mochten vage und für einen Menschen nur schwer zu erkennen sein. Und er hatte sich nicht allein darauf beschränkt, Liliths Körper zu erkunden.
Makootemane hatte ihn vieles gelehrt in den Jahrhunderten; mehr als die anderen Kinder seines Blutes. Er war in gewisser Weise seit jeher der Lieblingssohn des Alten gewesen. Vielleicht hatte es daran gelegen, daß der Mond sich bei Hidden Moons Kelchtaufe verdunkelt hatte und er deshalb zu etwas Besonderem unter seinen Brüdern und Schwestern geworden war. Vielleicht waren es Gründe, die er nie mehr erfahren würde, nun da sein Vater tot war ...
In jedem Fall aber hatte Makootemane Wyando vieles gelehrt über die Magie und Kräfte seines Volkes, wenn auch längst nicht alles. Ein Leben mochte nicht reichen, alles Wissen darüber zu erfahren -nicht einmal, wenn dieses Leben so lange währte wie das ihre.
Aber Hidden Moon wußte genug, um Leben und Tod dort zu erforschen, wo es sich verbarg - jenseits von Haut und Fleisch, tief im Leib eines Lebewesens. Dorthin vermochte der Arapaho vorzudringen, und so hatte er es auch bei Lilith getan.
Doch er hatte nur Leere vorgefunden. Verlassenheit, bar allen Geistes, auf nicht körperlich spürbare Weise kalt.
Tot .
Lilith lebte nicht mehr.
Den Grund ihres Todes kannte Hidden Moon nicht. Und es schien ihm müßig, danach zu suchen. Zumal er die ihm verbleibende Zeit nicht dafür verwenden durfte. Sie mochte knapp genug sein.
Die Trauer, die ihn erfüllte, galt nicht nur Lilith. Ein Teil von ihm trauerte auch um seinetwillen. Denn Liliths Tod mußte auch den seinen bedeuten.
Was vom Adler auf Lilith übergegangen war, war mit ihr gestorben. Und so war Hidden Moon dazu verdammt, sich all jenem hingeben zu müssen, dem sein Stamm über die Jahrhunderte abgeschworen hatte. Die dunklen Triebe würden sein Tun und Denken bestimmen, Tod und Verderben
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