Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
Zähne zusammen. Zuerst würde ich zu Chade gehen, und wenn er zu viel verlangte, blieb mir als zweite Möglichkeit der Narr. Es fiel mir nicht leicht, ihn demütig um ein Darlehen zu bitten, aber …
»Das würdest du tun? Für mich? Aber ich bin nicht einmal wirklich dein Sohn.« Harm schaute mich ungläubig an.
Ich erwiderte seinen Händedruck »Das würde ich tun. Weil du das bist, was für mich einem Sohn am nächsten kommt.«
»Ich werde dir helfen, die Schuld abzutragen, ich schwör’s.«
»Nein, das wirst du nicht. Es wird meine Verpflichtung sein, die ich freiwillig eingehe. Ich erwarte von dir, dass du auf deinen Meister hörst und dir Mühe gibst, dein Handwerk gut zu lernen.«
»Das werde ich, Tom, das werde ich. Und glaub mir, wenn du einmal alt bist, soll es dir an nichts fehlen.« Er gab dieses Versprechen mit dem tiefen Ernst der blauäugigen Jugend. Ich nahm die Worte, wie sie gemeint waren und ignorierte das belustigte Glimmen in Nachtauges Blick.
Siehst du, wie erbaulich es ist, wenn jemand von dir annimmt, dass du schon am Rande des Grabes stehst?
Ich habe nie gesagt, dass du am Rande des Grabes stehst
Nein, aber du behandelst mich, als wäre ich mürbe wie alte Hühnerknochen.
Bist du’s nicht?
Nein. Meine Kraft kehrt zurück Warte, bis die Blätter fallen und es kühler wird. Ich werde dich müde laufen, bis du umfällst. Wie immer.
Und wenn ich früher aufbrechen muss?
Der Wolf bettete schnaufend den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten. Und was, wenn man nach der Kehle des Rehbocks springt und fehlt? Es hat keinen Sinn, sich über etwas Gedanken zu machen, bevor es geschieht.
»Denkst du das Gleiche wie ich?« Harm durchbrach zaghaft die scheinbare Stille im Zimmer.
»Möglich. Was hast du gedacht?«
Er zögerte. »Ich habe gedacht, je eher du mit deinen Freunden sprichst, desto früher wissen wir, wie es weitergeht.«
»Noch ein Winter hier würde dir nicht gefallen?«, fragte ich.
»Nein.« Er hatte von jeher das Herz auf der Zunge getragen, doch sogleich bemühte er sich, die schroffe Ablehnung zu mildern. »Nicht dass es mir hier nicht gefallen würde, mit dir und Nachtauge. Es ist nur, dass …« Er suchte nach Worten. »Ist dir je so gewesen, als könntest du wahrhaftig spüren, wie die Zeit an dir vorbeifließt, und du bist in einem Altwasser gefangen, mit toten Fischen und dürrem Holz?«
Der tote Fisch bist du. Ich bin das dürre Holz.
Ich ignorierte Nachtauges Einwurf. »Wenn mich nicht alles täuscht, kann ich mich erinnern, ein solches Gefühl gehabt zu haben, einoder zweimal.« Mein Blick flog zu Veritas unvollendet gebliebener Karte der Sechs Provinzen. Ich atmete mit einem Ruck aus, damit es nicht wie ein Seufzen klang. »Ich werde mich so bald wie möglich auf den Weg machen.«
»Von mir aus kann es morgen früh losgehen. Einmal ordentlich ausschlafen, dann bin ich …«
»Nein.« Freundlich, aber bestimmt schnitt ich ihm das Wort ab. Beinahe wäre mir entschlüpft, dass ich die Leute, um die es ging, unter vier Augen sprechen musste, aber ich besann mich, bevor ich ihm Anlass gab, sich zu wundern und nachdenklich zu werden. Ich deutete mit dem Kopf auf Nachtauge. »Haus und Garten können nicht unbeaufsichtigt bleiben. Ich lasse alles in deiner Obhut, während ich fort bin.«
Schlagartig erlosch das Leuchten auf seinen Zügen. Es sprach für seinen Charakter, dass er tief Atem holte, die Schultern straffte und nickte.
Neben dem Tisch rollte Nachtauge sich auf die Seite und dann auf den Rücken. Hier liegt der tote Wolf. Eigentlich könnte man ihn begraben, er taugt zu nichts mehr, außer in einem staubigen Hof zu dösen und Federvieh zu beobachten, das er nicht fressen darf. Er ruderte kraftlos mit den Pfoten durch die Luft.
Dummkopf. Das Federvieh ist der Grund, weshalb der Junge hier bleibt, nicht deinetwegen.
Ach nein? Wenn du also Morgen aufwachst und die Hühner sind alle tot, dann könnten wir gemeinsam aufbrechen?
Untersteh dich! , warnte ich ihn.
Er öffnete das Maul und ließ seitlich die Zunge heraushängen. Der Junge schaute liebevoll auf ihn hinunter. »Ich finde immer, es sieht aus, als ob er lacht, wenn er das tut.«
Am nächsten Morgen war ich lange vor dem Jungen auf den Beinen. Ich holte meine guten Kleider aus dem Schrank. Sie waren muffig, weil lange nicht getragen, und ich hängte sie zum Lüften ins Freie. Der Leinenstoff des Hemdes war vergilbt. Ein Geschenk von Merle, vor langer Zeit. Wenn ich nicht irrte, hatte ich es
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