Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
dass Nessel, meine Tochter, die ich nie gesehen hatte, außer in Visionen, der Anlass war, der Chade zu mir führte. Ich senkte den Blick auf meinen Becher und erwog die Vorzüge von Branntwein zum Frühstück. Dann dachte ich wieder an Nessel, Bastardtochter eines Bastards, die ich gegen meinen Willen schon vor ihrer Geburt im Stich gelassen hatte. Ich nahm einen Schluck. Ich hatte vergessen, wie weich der Odevie aus Sandsegge war. Seine Wärme durchströmte mich so schnell und süß wie jugendliche Lust.
Chade ließ Gnade walten und zwang mich nicht, meinen Wunsch auszusprechen. »Sie sieht dir sehr ähnlich, auf eine schlaksige, mädchenhafte Art«, sagte er und lächelte, als er sah, wie ich das Gesicht verzog. »Merkwürdigerweise hat sie noch mehr Ähnlichkeit mit Burrich. Bei ihr finden sich mehr von seinen typischen Gesten und seiner Art zu sprechen, als bei irgendeinem seiner fünf Söhne.«
»Fünf!«, entfuhr es mir überrascht.
Chade griente. »Fünf Buben und alle begegnen ihrem Vater mit so viel Respekt und Ehrerbietung, wie ein Mann es sich nur wünschen kann. Ganz anders als Nessel. Sie gibt Burrich seinen eigenen finsteren Blick zurück, wenn er ihr gegenüber den strengen Vater herauskehrt. Was selten vorkommt. Ich will nicht sagen, dass sie sein Liebling ist, aber sie erobert sich einen größeren Platz in seinem Herzen, indem sie ihm die Stirn bietet, als die Buben mit ihrem achtungsvollen Gehorsam. Sie hat Burrichs Ungeduld und seinen untrüglichen Sinn für Recht und Unrecht. Zudem deine ganze Sturheit, aber vielleicht hat sie die ebenfalls von Burrich gelernt.«
»Dann hast du auch mit Burrich gesprochen?« Er hatte mich großgezogen und nun wuchs meine Tochter bei ihm auf wie sein eigenes Kind. Ihm zur Seite stand die Frau, die ich, so musste es nach außen erscheinen, im Stich gelassen hatte. Beide hielten mich für tot. Ihr Leben war ohne mich weitergegangen. Von ihnen zu hören, vermischte Schmerz mit Zärtlichkeit. Ich spülte den Geschmack mit einem Schluck Sandsegger hinunter.
»Es ist unmöglich, Nessel zu sehen, ohne Burrich als Dreingabe. Er wacht über sie, nun ja, wie ihr Vater. Es geht ihm gut. Sein Hinken ist mit den Jahren nicht besser geworden, doch er ist selten zu Fuß, daher scheint es ihn nicht sehr zu stören. Seine Leidenschaft sind Pferde, immer Pferde, wie von jeher.« Er räusperte sich. »Du weißt, dass die Königin und ich veranlasst haben, dass ihm die Fohlen von Rötel und Rußflocke übergeben wurden? Mit diesen beiden hat er sich seine Existenz aufgebaut. Die Stute, die du abgesattelt hast, Glosel, ich habe sie von ihm bekommen. Er züchtet nicht nur, sondern bildet Pferde aus. Er wird nie ein reicher Mann sein, denn sobald er einen Kuranten übrig hat, gibt er ihn aus für ein neues Pferd oder eine neue Parzelle Weideland. Doch als ich ihn fragte, wie er zurechtkommt, antwortete er: ›Wir sind zufrieden.‹«
»Und was hat Burrich zu deinem Besuch gemeint?«, erkundigte ich mich. Ich war stolz darauf, dass meiner Stimme nichts von meinem inneren Aufruhr anzumerken war.
Chade grinste wieder, aber ein wenig schief diesmal. »Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, war er höchst liebenswürdig und gastfreundlich. Als er mich am nächsten Morgen zu meinem Pferd hinaus begleitete, das einer der Zwillinge, Nim, glaube ich, für mich gesattelt hatte, versicherte er mir in aller Freundschaft, dass er mich töten würde, bevor er irgendeine Einmischung bei Nessel duldete. Ich zweifelte nicht an dem Ernst seiner Worte, also brauche ich sie nicht noch einmal aus deinem Mund zu hören.«
»Weiß sie, dass Burrich nicht ihr Vater ist? Weiß sie von mir? Dass es mich gibt?« Fragen über Fragen drängten sich mir auf die Zunge; ich schluckte sie hinunter. Ich hasste den Eifer, mit dem ich diese beiden gestellt hatte, aber ich konnte nichts dafür. Es war wie der Gabenhunger, diese Gier zu wissen, diese Dinge endlich zu wissen, nach all der langen Zeit.
Chade schaute mich von der Seite an und nippte an seinem Becher. »Ich weiß nicht. Sie nennt ihn Papa. Sie liebt ihn mit aller Inbrunst, ohne Wenn und Aber. O, sie streiten auch, aber dabei handelt es sich mehr um die üblichen Meinungsverschiedenheiten als um Burrich selbst. Ich fürchte, die Beziehung zu ihrer Mutter ist um einiges stürmischer. Nessel zeigt kein Interesse an Bienen oder Kerzen; Molly sähe aber gern, dass die Tochter bei ihr in die Lehre geht. Dickköpfig wie Nessel ist, glaube ich, dass
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