Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
Gabe ist unendlich viel mehr als nur die Fähigkeit, über weite Entfernungen zu kommunizieren. Mit der Gabe kann ein Mensch sein Leben und seine Gesundheit länger erhalten. Sie verleiht einem Redner größere Überzeugungskraft. Deine Ausbildung – ich weiß nicht, wie gründlich sie war, aber ich wette, Galen hat dir so wenig beigebracht wie nur möglich.« Ich hörte die wachsende Erregung in der Stimme des alten Mannes, als spräche er von einem geheimen Schatz. »Die Gabe hat so viele Facetten, so viele. In den Schriften finden sich Hinweise, dass die Gabe als Werkzeug zur Heilung verwendet werden kann, nicht nur, um genau herauszufinden, was einem verwundeten Soldaten fehlt, sondern auch, um die eigentliche Genesung zu fördern. Jemand mit starker Gabe kann durch die Augen eines anderen sehen, hören, was jener andere hört und fühlt. Und …«
»Chade.« Mein halblauter Einwurf ließ ihn innehalten. Einen Moment hatte ich zornig werden wollen, als er zugab, die Schriften gelesen zu haben. Es stand ihm nicht zu. Andererseits, wenn seine Königin sie ihm zum Studium übergab, hatte er so gut das Recht dazu wie jeder andere. Wer sonst sollte sie lesen? Ein Gabenmeister existierte nicht mehr. Diese Linie war ausgestorben. Nein. Ich hatte sie ausgerottet. Ausgemerzt, einen nach dem anderen, die letzten geschulten Gabenkundigen, die letzte je in Bocksburg geschaffene Kordiale. Sie waren des Verrats an ihrem König schuldig, deshalb hatte ich sie getilgt und die Magie mit ihnen. Der vernünftig denkende Teil von mir wusste, dass es eine Magie war, die besser nie wieder erweckt werden sollte. »Ich bin kein Gabenmeister, Chade. Nicht nur, dass mein Wissen über die Gabe unvollständig ist, mein Talent war unbeständig. Gewiss hast du beim Studium der Schriften herausgefunden oder von Kettricken erfahren, dass Elfenrinde das Schädlichste ist, was ein Gabenkundiger zu sich nehmen kann. Sie unterdrückt die Gabe oder tötet sie ab. Ich habe mich bemüht, ohne sie auszukommen. Was sie mir antut, gefällt mit nicht. Aber selbst die Niedergeschlagenheit, die sie bewirkt, ist besser als der Gabenhunger. Manchmal habe ich den Tee tagelang getrunken, wenn das Verlangen besonders schlimm war.« Ich wandte den Blick von seiner besorgten Miene ab. »Was immer ich an Talent besessen haben mag, ist wahrscheinlich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.«
Seine Stimme klang bedrückt, als er meinte: »Mir will scheinen, dass die immer wiederkehrenden Anfälle für das Gegenteil sprechen, Fitz. Es betrübt mich zu hören, dass du leiden musstest; wir hatten wirklich keine Ahnung. Ich nahm an, der Gabenhunger sei vergleichbar mit dem Verlangen nach Alkohol oder Glimmkraut, und dass nach einer Zeit erzwungener Abstinenz das Bedürfnis nachlassen würde.«
»Nein. Das tut es nicht. Manchmal ruht es. Über Monate, Jahre sogar. Dann, ohne erkennbaren Anlass, erwacht es wieder.« Ich kniff für einen Moment die Lider zusammen. Darüber zu sprechen, daran zu denken, war wie das Stochern in einem Geschwür. »Chade, ich weiß, du bist aus diesem Grund den weiten Weg zu mir gekommen. Und du hast meine Antwort gehört. Können wir jetzt von etwas anderem reden? Dieses Gespräch – bereitet mir Schmerzen.«
Er schwieg eine Zeit lang, dann sagte er mit aufgesetzter Munterkeit: »Aber natürlich. Wechseln wir das Thema. Ich habe Kettricken gewarnt, dass du dich aller Wahrscheinlichkeit nach für unseren Plan nicht würdest begeistern können.« Er stieß einen kurzen Seufzer aus. »Dann werde ich also sehen müssen, was ich mit den Kenntnissen, die ich aus den Schriften gewonnen habe, ausrichten kann. Lassen wir das. Was soll ich dir jetzt erzählen? Was möchtest du wissen?«
»Du kannst nicht meinen, dass du Pflichtgetreu mit dem Wissen unterrichten willst, das du aus irgendwelchen alten Schriftrollen zusammengeklaubt hast?« Ärger regte sich in mir.
»Du lässt mir keine andere Wahl«, bedeutete er mir ohne den geringsten Vorwurf in der Stimme.
»Hast du eine Vorstellung davon, welcher Gefahr du ihn aussetzt? Die Gabe versucht den, der sie besitzt, zu beherrschen. Sie zieht an Verstand und Herz wie ein Magnet. Er wird eins mit ihr werden wollen. Wenn der Prinz dieser Verlockung nur für einen Augenblick nachgibt, während er noch ein Schüler ist, ist er verloren. Und es wird kein Kundiger zur Stelle sein, um ihm zu folgen und ihn der Strömung zu entreißen.«
Chades Mienenspiel verriet mir, dass er keine Ahnung hatte,
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