Die Zwerge
Arbeitszimmer seines Ziehvaters. Er klopfte gegen die große Tür, und als er keine Antwort erhielt, trat er ein.
»Wir warten lieber, damit wir das Wiedersehen nicht stören«, rief Boëndal ihm hinterher.
Der Zwerg stutzte, als er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Auf der einen Seite herrschte das reinste Durcheinander. Bücher, Notizen und andere Blätter lagen wie immer unordentlich verstreut umher, während in der anderen Hälfte die hellste Ordnung ausgebrochen war.
In dem gegenwärtigen Zustand hatte Tungdil die Behausung Lot-Ionans noch nie gesehen. Die Zauberwerke ruhten alphabetisch geordnet in den Regalen, die Papiere stapelten sich sauber aufeinander, Federkiel und Tintenfass befanden sich in den vorgesehenen Halterungen.
Er muss einen neuen Spruch erschaffen haben, der ihm das Aufräumen abnimmt, staunte er. Wahrscheinlich hatte er ihn zur Probe nur auf die eine Seite des Zimmers angewendet. Hoffentlich hat ihn der Zauber nicht gleich mit aufgeräumt.
Er streifte durch die Kammer, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was die Stille im Stollen und in der Zauberschule erklärte.
*
Ingrimmsch sog geräuschvoll die Luft ein. »Warten macht Hunger«, verkündete er. »Ich suche die Küche der Langen. Vielleicht geben sie uns etwas ab, wenn wir sie freundlich bitten.«
»Wir sollten Tungdil mitnehmen«, schlug sein Bruder vor. »Erinnere dich, dass uns niemand kennt …«
»Ach, die werden uns schon kennen lernen«, lachte Boїndil und stapfte los. Sein Hunger setzte sich gegen sämtliche Vorbehalte durch. »Du kannst gern hier warten, wenn du willst. Mir hängt der Magen bis in die Kniekehlen.«
Boëndal wollte ihn nicht allein gehen lassen. Sie waren Gäste der Menschen, und deshalb kam es auf ein einigermaßen anständiges Betragen an, was er seinem Blutsverwandten nicht unbedingt zutraute.
»Tungdil, wir suchen die Küche. Ich passe auf ihn auf«, rief er laut und lief Boїndil hinterher, der um die nächste Biegung des Ganges verschwunden war.
Die Zwerge hatten keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Vraccas hatte es ihnen in die Steinwiege gelegt, sich unterirdisch bestens orientieren zu können, ganz gleich, ob sie jemals zuvor schon in der Umgebung gewesen waren oder nicht. Sie spürten, ob ein Gang leicht nach unten oder nach oben führte, sie bemerkten feine Richtungsänderungen und konnten einschätzen, in welche Himmelsrichtung sie liefen. In diesem Fall wurde ihr Weg nicht durch die Gestirne, sondern vielmehr durch den leckeren Geruch bestimmt.
Die Zwillinge passierten offen stehende Räume, in denen sich kein einziger Mensch aufhielt.
»Vielleicht sitzen sie alle beim Essen«, mutmaßte Boëndal und kämpfte mit dem aufsteigenden Unwohlsein.
Sie stampften durch den Gang, in dem der Geruch nach gebratenem Fleisch am intensivsten zu riechen war. Ihre Kettenhemden und Panzerteile klirrten leise, die dicken Sohlen der Schuhe trafen klackend auf den Boden des Stollens. Endlich erreichten sie eine Tür, die aufgrund ihrer verschiedensten Flecken ins Reich der Küchenmeister zu führen schien.
Boëndal wollte sich rasch nach vorn schieben, um den Köchen einen weniger lauten Aufritt zu bieten, aber Ingrimmsch hatte bereits die Hand auf die Klinke gelegt und drückte sie kräftig nach unten.
Der hohe Raum mit den vier verschiedenen Herdstätten war scheinbar ebenso verlassen wie der Rest der Behausung. Die Bewohner konnten noch nicht lange weg sein. Die Feuer brannten und heizten den Ofenplatten ein, und es zischte und blubberte in den großen abgedeckten Pfannen. Über den Flammen der beiden Kamine hingen bauchige Kessel, in denen Suppen brodelten. Vereinzelt tauchten Fleischstückchen an der braunen Oberfläche auf, ehe sie wieder in der Flüssigkeit versanken.
Boëndals ungutes Gefühl verstärkte sich, und er schaute sich sehr genau um. Leere Zimmer und volle Behälter gaben keinen Sinn. Was geht hier vor?
»Endlich sind wir richtig«, verkündete Boїndil gut gelaunt und nahm die Hand vom Beil, um sich ein Stück vom Brot abzubrechen. Zielstrebig ging er auf den vordersten der Herde zu. Er schob sich einen Schemel vor den Ofen, hob den Deckel ein wenig an und schaute, was ihm das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Es waren saftige Stücke, die in ihrem eigenen Sud garten. »Dann wollen wir mal.«
Er tunkte ein ordentliches Stück Brot in die Soße und klappte die Kiefer weit auseinander, um sich seine Vorspeise mit einem Schlag in den Mund zu
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