Die Zwerge
Schwindel erfasste ihn, und Tungdil presste sich gegen den Fels, um nicht abzustürzen. Als die Umgebung sich nicht mehr drehte, wischte er sich das Blut aus dem rechten Auge und kletterte knurrend weiter.
»Vraccas schuf uns aus Fels, um über den Fels zu herrschen, also wirst du dich gefälligst vor mir beugen!«, rief er laut. »Du wirst mich nicht abschütteln.«
An dem Schatten, den er warf, sah er die Sonne über den Zenit steigen und schließlich versinken; der Wind pfiff ihm kalt um die Ohren und zerrte an seinen Rucksäcken. Die Gefahr wuchs mit jedem Schritt, den er tat, und ans Runterkommen wollte er gar nicht denken. Dennoch wagte er es, sich umzudrehen und einen Blick auf das vierhundert Schritt unter ihm liegende Gauragar zu werfen.
Wolken und Sonne schufen auf dem farbenreichen Flickenteppich aus Wiesen, Feldern und Wäldern ein Schattenspiel, das er in dieser Art nie zuvor gesehen hatte. Tungdils Augen erspähten in meilenweiter Entfernung Städte, die aus kleinen Bauklötzen gemacht schienen. Bäche und Flüsse zogen sich Adern gleich durch die Landschaft, und es roch nach Frühling.
Der herrliche Ausblick raubte ihm fast den Atem. Er fühlte sich mit einem Mal so erhaben und so groß wie ein Berg. Nun verstand er, warum das Volk der Zwerge sich die Gebirge als Wohnstätte erwählt hatte.
Mit neuem Mut setzte er seinen Aufstieg fort, bis er auf gut fünfhundert Schritt Höhe auf eine Nische stieß. Der Zwerg beschloss, die Nacht darin zu verbringen.
Vorsichtig kroch er in die Felseinbuchtung, die ihm Schutz vor dem rauen Wind und vor weiteren Geröllangriffen des Schwarzjochs bot. Morgen sehe ich weiter, dachte er.
Das untergehende Taggestirn beleuchtete sein schlichtes Obdach. Warmes Licht fiel auf die schwarzen Wände des Tafelbergs und hob die unterschiedlichen Strukturen der Felsen hervor. Je länger Tungdil auf die Unebenheiten seiner Nische blickte, desto mehr erinnerten sie ihn an Schriftzeichen.
Der Zwerg blinzelte. Kann es eine Täuschung sein?, fragte er sich. Seine Hand tastete über die Oberfläche. Da war tatsächlich etwas. Die Witterung hatte den Runen im Lauf der Zyklen arg zugesetzt und sie abgeschliffen, aber sie waren zweifellos vorhanden.
Das Problem konnte er leicht lösen! Rasch öffnete er seine Zunderbüchse und entfachte ein kleines Flämmchen, mit dem er den Stiel seiner Axt anbrannte. Tungdil nahm die Landkarte aus dem Rucksack, drehte sie mit der unbemalten Seite nach oben und fuhr mit dem rußigen Stück Holz vorsichtig über das Papier.
Die Rußteilchen hafteten schlecht, aber es gelang: Die Zeichen übertrugen sich, und die Überbleibsel einer uralten Schrift wurden sichtbar.
Tungdil benötigte lange, bis er die künstlerisch vollendeten Runen und die sehr umständliche Formulierung in die gemeine Zwergensprache übersetzt hatte und verstand.
Erbaut mit Blut,
gefärbt vom Blut.
Geschaffen gegen die Vier,
gefallen gegen die Vier.
Verflucht von den Vier,
verlassen von allen Fünf.
Einst erweckt von den Drei
gegen den Willen der Drei.
Erneut gefärbt
vom
Blut
aller
Kinder.
Die Worte waren von dem Bildhauer in Form eines Baumes als Zeichen der Erneuerung und der ständigen Wiederkehr in den Fels graviert worden.
Das Alter der Runen konnte Tungdil nicht einordnen, darüber hatte nichts in dem Buch gestanden, das er in den Regalen Lot-Ionans über die Zwergensprache gefunden hatte. Doch für ihn waren die Worte eine Botschaft aus einem vergangenen Zeitalter, das mindestens eintausendeinhundert Zyklen zurück lag.
Er sprach sie laut, um sie zum Leben zu erwecken; ergriffen lauschte er dem fremden und dennoch seltsam vertrauten Klang, der sich vollkommen anders als der Zungenschlag der Menschen anhörte. Die Silben rührten ihn, packten ihn, wühlten ihn auf.
Doch auch die Hänge und Schluchten des Schwarzjochs vernahmen die altertümliche Sprache, der Tafelberg erinnerte sich und erbebte. Der Groll gegen die Zwerge kehrte mit Macht zurück und richtete sich nun gegen Tungdil.
»Ich lasse mich nicht von dir abschütteln.« Der Zwerg rutschte näher an die Wand, um von den rüttelnden Felsen nicht in die Tiefe gestürzt zu werden.
Doch auch das Gestein in seinem Rücken bewegte sich; es wich mit mahlenden Lauten vor ihm zurück und gab schließlich den Eingang zu einem Tunnel frei. Das Beben des Schwarzjochs endete abrupt.
Tungdil sah zwei Möglichkeiten vor sich. Entweder wollte ihn der Berg in eine Falle locken und ihn für immer in
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