Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
nie menschlich gewesen.
Und da war noch etwas. Wenn die Virals einmal Menschen wie sie gewesen waren, wie waren sie dann geworden, was sie jetzt waren?
Aber die größte Geschichte von allen war die Geschichte von dem großen Niles Coffee, dem Gründer der Expeditionstruppe aus furchtlosen Männern, die quer durch die Welt zogen, um zu kämpfen und zu sterben. Coffees Herkunft war wie alles andere an ihm von Mythen verschleiert. Er war ein Drittling, großgezogen von den Schwestern. Er war ein Waise des Ostereinfalls ’38, bei dem er seine Eltern hatte sterben sehen. Ein Einzelgänger, der eines Tages vor dem Tor gestanden hatte, ein Knabenkrieger, in Häute gekleidet und mit einem abgetrennten Viral-Kopf auf einem Spieß. Er hatte hundert Virals mit eigener Hand erledigt, tausend, zehntausend– die Zahl wuchs stetig. Er setzte nie einen Fuß in die Stadt. Er ging unter ihnen umher, gekleidet wie ein gewöhnlicher Mann, ein Feldarbeiter, und verhüllte seine Identität. Er existierte überhaupt nicht. Es hieß, seine Leute legten einen Schwur ab– einen Blutschwur–, und den schworen sie nicht Gott, sondern einander, und sie rasierten sich den Schädel als Zeichen dieses Versprechens, des Versprechens zu sterben. Weit über die Mauern hinaus reisten sie und nicht nur durch Texas. Nach Oklahoma City. Nach Wichita in Kansas. Nach Roswell in New Mexico. An der Wand über seiner Koje hatte Boz eine Landkarte der alten Vereinigten Staaten, Blöcke aus verblichenen Farben, zusammengefügt wie die Teile eines Puzzles. Jeden neuen Ort markierte er mit einer Nadel von ihrer Mutter, und die Nadeln verband er mit Fäden, um die Wege zu zeigen, die Coffee zurückgelegt hatte. In der Schule fragten sie Schwester Peg, deren Bruder an der Oil Road arbeitete: Was hatte sie gehört, und was wusste sie? Stimmte es, dass die Expeditionstruppe andere Überlebende da draußen gefunden hatte, ganze Städte, ja Großstädte voller Menschen? Die Schwester gab ihnen darauf keine Antwort, aber wenn ihre Augen beim Klang seines Namens aufblitzten, erkannten sie darin das Licht der Hoffnung. Das war Coffee: Wo immer er herkam und wie er es auch machte, Coffee war ein Grund zur Hoffnung.
Viele Jahre später, als Boz schon lange nicht mehr da war und ihre Mutter auch nicht, sollte Vorhees sich fragen, warum er und sein Bruder über diese Dinge nie mit ihren Eltern gesprochen hatten. Es wäre doch naheliegend gewesen, aber sosehr er sein Gedächtnis durchforschte, er konnte sich an keine einzige Gelegenheit erinnern, wie er sich auch nicht daran erinnern konnte, dass sein Vater oder seine Mutter je ein Wort über Boz’ Landkarte verloren hatte. Warum war das so? Und was war aus der Karte selbst geworden? In Vorhees’ Erinnerung hing sie da, und am nächsten Tag war sie weg. Es war, als hätten die Geschichten über Coffee und die Expeditionstruppe zu einer Geheimwelt gehört, zu einer Jungenwelt, die versank und dann versunken blieb. Ein paar Wochen lang hatten diese Fragen ihn so stark beschäftigt, dass er eines Morgens beim Frühstück seinen ganzen Mut zusammennahm und seinen Vater danach fragte. Doch der lachte nur. Machst du Witze? Thad Vorhees war kein alter Mann, sah allerdings so aus: Er hatte seine Haare und die Hälfte seiner Zähne eingebüßt, seine Haut war permanent von einer säuerlichen Feuchtigkeit glasig überzogen, und seine Hände lagen auf dem Küchentisch wie Nester aus Knochen. Oder fragst du im Ernst? Also du, du warst ja nicht so schlimm, aber Boz – der Bengel konnte einfach nicht aufhören damit. Coffee, Coffee, Coffee, von morgens bis abends. Erinnerst du dich nicht? Trauer verschleierte plötzlich seinen Blick. Diese blöde Landkarte. Um ehrlich zu sein, ich hab’s nicht übers Herz gebracht, sie herunterzureißen, aber es hat mich überrascht, dass du es getan hast. Hab dich in deinem ganzen Leben nie so weinen sehen. Wahrscheinlich hattest du kapiert, dass das alles Bullshit war. Coffee und die anderen. Dass dabei nichts rauskommen würde.
Aber es war nicht Nichts, das war es nie gewesen und würde es auch nie sein. Wie konnte es Nichts sein, wenn sie Boz doch so geliebt hatten?
Es war natürlich Tifty– Tifty, der Lügner, Tifty, der Geschichtenerzähler, Tifty, der sich so verzweifelt danach sehnte, von jemandem gebraucht zu werden, dass es keine Dummheit gab, die er nicht über die Lippen gebracht hätte. Tifty behauptete, er habe Coffee mit seinen eigenen zwei Augen gesehen. Tifty, hatten sie alle
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