Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Geschichten waren zu gut, zu interessant, um sie nicht zu glauben.
Aber dass er Coffee gesehen hatte– das war einfach zu viel. Das konnte nicht stimmen. Coffee lief man nicht mal so über den Weg. Coffee war wie die Virals ein Geschöpf der Schatten. Und doch hatte Tiftys Geschichte den Klang der Wahrheit. Er war mit seinem Vater nach H-Town gegangen, in die gesetzlosen Barackenstraßen dort, um seinen Gangstercousin zu treffen. Im Hinterzimmer des Maschinenschuppens, in dem sich die Destille befand– ein kolossales Ding, ein lebendiger Drache aus Drähten und Röhren und fauchenden Kesseln–, trieben sich Männer herum mit bedrohlichen Augen, schmierigem Lächeln, schwarzen Zähnen und mit Pistolen im Gürtel. Geld ging von Hand zu Hand, der Krug mit dem Alk wurde gebracht.
Diese Ausflüge machte er regelmäßig. Tifty hatte schon oft davon erzählt, aber bei dieser Gelegenheit war etwas anders. Diesmal war da ein Mann dabei, der sich von den anderen unterschied. Er gehörte nicht zum Gewerbe, das sah Tifty sofort. Groß, mit der aufrechten Haltung eines Soldaten. Er stand abseits im Schatten, das Gesicht nicht zu erkennen, und trug einen dunklen Mantel mit Gürtel. Tifty sah, dass sein Kopf kahl geschoren war. Offenbar war dieser Mann, wer immer er sein mochte, in dringenden Angelegenheiten da. Normalerweise trödelte Tiftys Vater noch eine Weile herum, trank und tauschte Geschichten aus den Tagen in H-Town aus, aber nicht an diesem Abend. Cousin, dessen große runde Gestalt hinter seinem Schreibtisch klemmte, nahm die Scheine, die Tiftys Vater ihm in die Hand drückte, kommentarlos entgegen, und im Nu schob man sie wieder zur Tür hinaus. Erst als sie den Schuppen weit hinter sich gelassen hatten, sagte sein Vater: Weißt du, wen du da gesehen hast, Junge? Hä? Weißt du das? Ich sag dir, wer das war. Das war Niles Coffee höchstpersönlich.
» Ich erzähle euch noch was.« Die fünf drängten sich zusammen in ihrer Bude im Hinterhof. Beim Reden kratzte Tifty mit dem Taschenmesser im Staub herum. » Mein Alter sagt, der Coronel hat ganz in der Nähe sein Lager aufgeschlagen, unterhalb des Damms. Einfach draußen im Freien, als wäre das gar nichts. Sie lassen die Dracs rankommen und killen sie dann in den Fallen.«
» Ich hab’s gewusst!«, platzte Boz heraus. Sein Gesicht glühte vor Aufregung. Er drehte sich auf den Knien zu seinem älteren Bruder um. » Was hab ich gesagt, Vor?«
» Nie im Leben«, sagte Cruk. Seine Rolle in der Gruppe war die des Skeptikers, und er spielte sie pflichtbewusst.
» Ich sage euch, er war es. Man konnte es einfach fühlen. Alle haben es gespürt.«
» Und was sollte Coffee von den Typen vom Gewerbe wollen? Sag mir das mal.«
» Woher soll ich das wissen? Vielleicht kauft er Alk für seine Leute.« Dann hatte er eine neue Idee. Man sah es seinem Gesicht an. Er beugte sich vor und senkte die Stimme. » Oder Waffen.«
Cruk lachte sarkastisch. » Hört euch diesen Bengel an.«
» Du kannst ruhig lachen. Ich hab sie gesehen. Und ich rede von echten Army-Waffen aus der Zeit Davor. M-16, automatische Pistolen, sogar Granatwerfer.«
» Wow«, sagte Boz.
» Woher sollte Cousin solche Waffen haben?«, fragte Vorhees.
Tifty richtete sich auf den Knien auf und sah sich um, als müsse er sich vergewissern, dass niemand ihn hörte. » Ich weiß nicht, ob ich euch das erzählen sollte.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. » Da gibt’s einen Bunker, einen alten Army-Stützpunkt in der Nähe von San Antonio. Cousin hat da oben Patrouillen unterwegs.«
» Das kann ich mir nicht eine Sekunde länger anhören«, sagte Cruk. » Du hast weder Coffee noch sonst jemanden gesehen.«
» Soll das heißen, du glaubst nicht, dass es ihn gibt?«
Dieser Gedanke war ein Sakrileg. » Das hab ich nicht gesagt. Du hast ihn bloß nicht gesehen, das ist alles.«
» Und was meinst du, Vor?«
Er fühlte sich in die Enge getrieben. Die Hälfte von dem, was Tifty erzählte, war purer Bullshit. Vielleicht mehr als die Hälfte. Andererseits, der Drang, es zu glauben, war stark.
» Ich weiß es nicht«, brachte er hervor. » Ich schätze… ich weiß es nicht.«
» Na, ich glaube ihm«, verkündete Dee.
Tifty machte große Augen. » Seht ihr?«
Cruk winkte ab. » Sie ist ein Mädchen. Sie glaubt alles.«
» Hey!«
» Na, ist doch so.«
Tifty schaute den älteren Jungen an. » Was ist, wenn ich sage, du könntest Coffee selber sehen?«
» Und wie sollte das gehen?«
» Kein
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