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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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den Vorsitz. Alicia konnte ihn jetzt ganz deutlich fühlen; mit jedem Schritt vertiefte sich das Bild in ihrem Kopf. Louise– die Schnur spannte sich immer straffer um ihren Hals, und ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, aber etwas hatte sich verändert. Alicia erlebte die Geschichte jetzt zweifach: Sie sah Louise an und schaute gleichzeitig aus ihr hervor. Wie war das möglich? Wann hatte sie diese Empfindsamkeit für die unsichtbare Welt erworben? Durch Louises Augen sah sie Martínez’ Gesicht. Ein gepflegter Mann mit präzisen Gesichtszügen. Silbernes Haar, aus der Stirn zurückgekämmt, Geheimratsecken. Ein menschliches Gesicht, aber nicht ganz: In seinen Augen war nichts, was man als menschlich hätte bezeichnen können, sondern nur eine seelenlose Leere. Die Lust, die er empfand, war die eines Tieres. Louise bedeutete ihm nichts. Sie war eine Anordnung warmer Flächen, geschaffen nur, um sein Verlangen zu stillen und dann beseitigt zu werden. Ihr Name stand deutlich lesbar auf ihrer Bluse, und doch konnte sein Verstand diesen Namen nicht mit der Person verbinden, die er hier mitten in der Vergewaltigung erwürgte, denn für ihn war nichts real außer ihm selbst. Alicia fühlte Louises Entsetzen und ihren Schmerz und dann den dunklen Augenblick, als die Frau begriff, dass der Tod bevorstand, dass ihr Leben zu Ende war. Sie würde sterben, ohne dass das Universum bestätigte, dass sie überhaupt jemals gelebt hatte, und das Letzte, was sie spüren würde, wenn sie die Welt verließe, wäre Martínez, der sie vergewaltigte.
    Aber da war noch etwas, ein drittes Gefühl, das an Alicias Bewusstsein rührte, eine Art Hintergrundsummen. Ein Gefühl von Einsamkeit und Trostlosigkeit, von Verlassensein. Was erlebte sie hier? Sie hatte die Einmündung erreicht, einen Raum namens Gebeinhaus. Ein starker Uringeruch brannte in ihrer Nase. In der feuchten Luft wehte ihr Atem vor ihr wie eine eisige Wolke. Das Piepen des Radiokompasses war immer schneller geworden und hatte sich jetzt in einen ununterbrochenen Ton verwandelt.
    Und da wusste sie, was sie vorhatte. Sie hatte es die ganze Zeit vorgehabt. Der Plan war nur Tarnung gewesen, eine raffinierte List zur Tarnung ihrer wahren Absicht.
    Sie wollte Martínez selbst töten. Sie wollte fühlen, wie er starb.
    Dass etwas nicht stimmte, wusste Peter am Aufzug ein paar Sekunden, bevor Alicia aus seiner Sichtlinie verschwand. Es gab keine rationale Erklärung für dieses Wissen; es kam einfach aus der Stille zu ihm, ein seismisches Gefühl tief in seinen Knochen.
    » Lish, melde dich.«
    Keine Antwort.
    » Lish, kannst du mich hören?«
    Statisches Rauschen. Dann sagte sie: » Bleib da.«
    In ihrem Ton lag etwas Beunruhigendes. Eine Art Resignation, als habe sie ein Seil durchtrennt, an dem sie über einem Abgrund hing. Bevor er antworten konnte, hörte er ihre Stimme noch einmal. » Ich mein’s ernst, Peter.«
    Dann war sie weg.
    Er funkte nach oben. » Etwas stimmt nicht. Ich hab sie verloren.«
    » Bleiben Sie auf Ihrer Position, Jaxon.«
    Hatte sie gesagt, linker Tunnel? Ja, der linke.
    » Ich gehe ihr nach«, teilte er Henneman mit.
    » Negativ. Bleiben Sie, wo…«
    Aber den Rest von Hennemans Nachricht hörte Peter nicht mehr. Er war schon weg.
    Zur selben Zeit sprintete Lieutenant Dodd Hals über Kopf auf dem Serpentinenweg hinunter in die Höhle. Ihm war nicht bekannt, dass die Kette der Funkverbindungen unterbrochen worden war und dass weder Peter noch Alicia wussten, dass die Bombe auf dem Grund des Haupteingangs sich selbst entschärft hatte– das erste Missgeschick in einer Kaskade von Ereignissen, die sich niemals zur Zufriedenheit des Zentralkommandos vollständig würden rekonstruieren lassen. Irgendwie– durch einen Kurzschluss im Stromkabel, einen mechanischen Defekt, eine Laune des Schicksals– hatte der Empfänger auf dem Grund der Höhle den Kontakt zur Oberfläche verloren. Ein Schlamassel erster Klasse, wenn es je einen gegeben hatte, und jetzt war Dodd im Galopp unterwegs in den Schlund der Hölle.
    Sein erster Abstieg hatte fünfzehn Minuten gedauert. Jetzt legte Dodd einen Sprint hin, der als mörderisch gelten konnte, und schaffte es durch die tückischen Haarnadelkurven des Weges in weniger als fünf Minuten bis zum Grund. Am Rande seines Gesichtsfeldes nahm er eine rasche Bewegung über sich wahr, begleitet von einem schrillen Kreischen, aber in seiner Eile registrierte er es nicht weiter; wenn der Befehl käme, den Sprengsatz zu

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