Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Universum ihn abgewiesen. Der Tod war eine Tür, die er nicht öffnen konnte. Hilflose Verzweiflung packte ihn, und die Tränen stiegen ihm in die Augen.
Lucius, warum hast du mich verlassen?
Es waren keine Worte, was er da hörte. Nichts so Einfaches, so Alltägliches. Es war das Gefühl einer Stimme, eine sanfte, lenkende Wesenheit, die unter der Oberfläche der Welt lebte.
Weißt du denn nicht, dass nur ich es dir nehmen kann? Dass den Tod nur ich allein geben kann?
Es war, als habe sein Geist sich geöffnet wie ein Buch und ihn einen Blick auf eine verborgene Realität werfen lassen. Er lag auf dem Boden, und sein Körper füllte einen festen Punkt in Raum und Zeit aus, und zugleich spürte er, wie sein Bewusstsein sich ausdehnte und mit einer Weite verband, für die er keinen Ausdruck hatte. Es war überall und nirgendwo; es existierte auf einer unsichtbaren Ebene des Daseins, die der Geist erkennen konnte, aber das Auge nicht, weil es durch gewöhnliche Dinge abgelenkt wurde– von dieser Pritsche, diesem Klo, dieser Wand. Er versank in einer Friedlichkeit, die in leuchtenden Wellen durch seinen Körper floss.
Die Arbeit deines Lebens ist noch nicht getan, Lucius.
Und seine Kerkerhaft war zu Ende, einfach so. Die Wände seiner Zelle waren hauchzarte Schleier, mehr Schein als Sein. Tag für Tag vertieften sich seine Betrachtungen, und sein Geist verschmolz mit der Kraft des Friedens, der Vergebung und der Weisheit, die er entdeckt hatte. Natürlich war es Gott, oder man konnte es zumindest Gott nennen. Aber selbst dieses Wort erschien zu klein, ein Wort, von Menschen gemacht für das, wofür sie keinen Namen hatten. Die Welt war nicht die Welt, sie war der Ausdruck einer tieferen Realität, wie die Farbe auf der Leinwand Ausdruck der Gedanken eines Malers war. Und mit diesem Bewusstsein kam das Wissen, dass die Reise seines Lebens noch nicht vollendet war, dass sein wahrer Zweck noch offenbart werden musste.
Und noch etwas: Gott war anscheinend eine Frau.
Er war im Waisenhaus aufgewachsen, bei den Schwestern; er hatte keine Erinnerung an seine Eltern oder an ein anderes Leben. Mit sechzehn hatte er sich zur DS gemeldet, wie es damals fast alle Jungen im Waisenhaus getan hatten, und als der Ruf nach Freiwilligen für das Zweite Expeditionsbataillon ergangen war, hatte Lucius zu den Ersten gehört. Das war gleich nach dem Überfall gewesen, der als » Massaker auf dem Feld« bekannt war– elf Familien waren bei einem Picknick überfallen worden: achtundzwanzig Leute getötet oder befallen, darunter zwölf Kinder. Viele der Männer, die diesen Tag überlebt hatten, waren ebenfalls bei den Freiwilligen gewesen. Aber Lucius’ Motive waren weniger eindeutig. Schon als Junge hatte er sich von den Geschichten über den großen Colonel Coffee nie beeindrucken lassen, denn dessen Heldentaten waren schlicht unmöglich. Welcher Mann, der bei Sinnen war, käme auf die Idee, die Dracs zu jagen? Doch Lucius war jung und rastlos wie alle jungen Männer, und er hatte genug von seinen Pflichten: auf den Mauern der Stadt Wache zu stehen, die Felder zu durchkämmen, Halbwüchsige einzufangen, die sich nicht an die Sperrstunde hielten. Natürlich gab es immer wieder Dopeys zu erlegen (sie von den Beobachtungsplattformen aus abzuschießen wurde zwar als Munitionsverschwendung missbilligt, aber es war allgemein erlaubt, wenn man es nicht übertrieb), und ab und zu konnte man eine Barprügelei in H-Town beenden. Aber so unterhaltsam so etwas auch war, ein Ausgleich für die Last der Langeweile war es nicht. Wenn die einzige andere Möglichkeit für Lucius Greer darin bestand, dass er sich freiwillig zu einem Haufen in den Tod verliebter Wahnsinniger meldete, dann sollte es eben so sein.
Beim Expeditionsbataillon fand Lucius indes genau das, was er brauchte und was in seinem Leben gefehlt hatte: eine Familie. Bei seinem ersten Einsatz war er zur Roswell Road entsandt worden; er hatte Konvois von Männern und Nachschub auf der Straße zur Garnison eskortiert, die damals noch ein kümmerlicher Vorposten gewesen war. Zu seiner Einheit gehörten zwei frische Rekruten, Nathan Crukshank und Curtis Vorhees. Wie Lucius hatte Cruk sich unmittelbar nach seinem Dienst bei der DS zum Bataillon gemeldet, aber Vorhees war Farmer, oder er war einer gewesen; nach allem, was Lucius wusste, hatte der Mann noch nie auch nur ein Gewehr abgefeuert. Er hatte bei dem Massaker seine Frau und zwei kleine Töchter verloren, und unter diesen Umständen
Weitere Kostenlose Bücher