Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
hätte niemand ihn abgelehnt. Die Trucks fuhren immer die ganze Nacht hindurch, und auf der Rückfahrt nach Kerrville war der Konvoi in einen Hinterhalt geraten. Der Angriff kam knapp eine Stunde vor Tagesanbruch. Lucius fuhr mit Cruk und Vor in einem Humvee hinter dem ersten Tanklaster. Als die Virals über sie herfielen, dachte Lucius: Das war’s, wir sind erledigt. Hier komme ich niemals lebend raus. Aber Crukshank, der am Steuer saß, war entweder anderer Ansicht, oder es war ihm egal. Er gab Vollgas, während Vorhees sie mit dem Maschinengewehr nacheinander abschoss. Sie wussten alle drei nicht, dass der Fahrer des Tanklasters durch die Windschutzscheibe erwischt worden und schon tot war. Als sie neben ihm herfuhren, schwenkte der Truck nach links und streifte die Nase des Humvee. Lucius musste das Bewusstsein verloren haben, denn das Nächste, was er mitbekam, war, dass Cruk ihn aus dem Wrack zerrte. Der Tanklaster stand in Flammen. Der Rest des Konvois war auf der Straße nach Roswell verschwunden.
Man hatte sie zurückgelassen.
Die Stunde, die jetzt folgte, war die kürzeste und zugleich die längste in Lucius’ Leben. Immer wieder kamen die Virals heran. Immer wieder gelang es den drei Männern, sie zurückzutreiben; sie hoben ihre Kugeln bis zum letzten Augenblick auf und schossen oft erst, wenn die Bestien nur noch ein paar Schritte weit entfernt waren. Weglaufen konnten sie nicht, denn der umgekippte Humvee war der beste Schutz, den sie hatten, und außerdem hatte Lucius sich den Knöchel gebrochen.
Als die Patrouille sie schließlich fand, saßen sie mitten auf der Straße neben dem umgestürzten Humvee und lachten, dass ihnen die Tränen über das Gesicht liefen. Lucius wusste, dass er sich niemandem jemals näher fühlen würde als diesen beiden Männern, die mit ihm durch den dunklen Korridor dieser Nacht gegangen waren.
Roswell, Laredo, Texarkana. Lubbock, Shreveport, Kearney, Colorado. Ganze Jahre vergingen, ohne dass Lucius in Sichtweite an Kerrville herankam, an den sicheren Hafen mit seinen Mauern und Lichtern. Sein Zuhause war jetzt anderswo. Sein Zuhause war das Expeditionsbataillon.
Bis er Amy begegnet war, dem Mädchen von Nirgendwo. Da hatte sich alles geändert.
Er sollte dreimal Besuch bekommen.
Der Erste kam eines frühen Morgens im September. Greer hatte seinen wässrigen Porridge zum Frühstück schon aufgegessen und sein morgendliches Krafttraining beendet– fünfhundert Liegestütze und Sit-ups, gefolgt von der entsprechenden Zahl Kniebeugen und Stützstrecken. An dem Rohr, das unter der Decke entlangführte, machte er fünfzig Klimmzüge in Sets zu jeweils zehn, mit Rist- und Kammgriff, wie Gott es befohlen hatte. Als er damit fertig war, hatte er sich auf die Kante seiner Pritsche gesetzt und seine Gedanken zur Ruhe gebracht, um seine unsichtbare Reise anzutreten.
Er begann jedes Mal mit einem Gebet, das er bei den Schwestern auswendig gelernt hatte. Es kam weniger auf die Worte an, eher auf ihren Rhythmus; sie entsprachen dem Stretching vor einer Trainingsübung und bereiteten den Geist auf den Sprung vor, den er gleich machen sollte.
Er hatte eben angefangen, als seine Gedanken durch das stumpf metallische Geräusch des Schlosses unterbrochen wurden. Die Zellentür ging auf.
» Besuch für dich, Zweiundsechzig.«
Lucius erhob sich, als eine Frau hereinkam– zierlich, mit schwarzem, von grauen Fäden durchzogenem Haar und kleinen dunklen Augen, die eine unabweisbare Autorität ausstrahlten. Eine Frau, der man sich unwillkürlich offenbaren musste und vor der sämtliche Geheimnisse wie ein offenes Buch ausgebreitet lagen. Sie trug eine kleine Dokumentenmappe unter dem Arm.
» Major Greer.«
» Madam President.«
Sie drehte sich zu dem Wärter um, einem gedrungenen Mann um die fünfzig. » Danke, Sergeant. Sie können uns allein lassen.«
Der Wärter hieß Coolidge. Im Knast lernte man sich kennen, und er und Lucius waren gut vertraut miteinander, auch wenn Coolidge anscheinend keine Ahnung hatte, was er mit Lucius’ Andachtsübungen anfangen sollte. Er war ein praktisch denkender, einfacher Mann mit einem ernsthaften, aber langsamen Verstand und zwei erwachsenen Söhnen, die beide bei der DS arbeiteten wie er selbst.
» Sind Sie sicher?«
» Ja. Danke, Sergeant, das ist alles.«
Der Mann zog sich zurück und schloss die Tür. Die Präsidentin kam einen Schritt weiter und sah sich in dem kastenförmigen Raum um.
» Außergewöhnlich.« Sie schaute Lucius an.
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