Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
» Die Leute sagen, Sie kommen niemals heraus.«
» Ich sehe keinen Grund dazu.«
» Aber was kann man denn hier den ganzen Tag tun?«
Lucius schenkte ihr ein Lächeln. » Was ich getan habe, als Sie kamen. Denken.«
» Denken«, wiederholte die Präsidentin. » Woran?«
» Einfach denken. Meine Gedanken schweifen lassen.«
Die Präsidentin verkniff sich jede Reaktion und setzte sich auf den Stuhl. Lucius tat es ihr nach und setzte sich auf die Kante seiner Pritsche, sodass sie einander zugewandt waren.
» Als Erstes muss ich Ihnen sagen, ich bin offiziell gar nicht hier. Inoffiziell sage ich Ihnen, ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe in einer äußerst wichtigen Angelegenheit brauche. Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion. Niemand darf von unserem Gespräch erfahren. Ist das klar?«
» In Ordnung.«
Sie öffnete ihre Mappe, nahm ein vergilbtes Blatt Papier heraus und reichte es Lucius.
» Erkennen Sie das?«
Eine Karte, mit Holzkohle gezeichnet. Der Lauf eines Flusses, eine hastig skizzierte Straße und gepunktete Linien, die den Rand eines umfriedeten Geländes darstellten. » Gelände« war zu wenig; es war eine ganze Stadt.
» Wo haben Sie das gefunden?«, fragte Lucius.
» Das ist unwichtig. Kennen Sie es?«
» Das sollte ich wohl.«
» Warum?«
» Ich habe es gezeichnet.«
Diese Antwort hatte sie erwartet. Lucius sah es ihr am Gesicht an.
» Um Ihre Frage zu beantworten: Es war in General Vorhees’ persönlicher Akte bei der Division. Man musste ein bisschen graben, um herauszufinden, wer sonst noch bei ihm gewesen war. Sie, Crukshank und ein junger Rekrut namens Tifty Lamont.«
Tifty. Wie viele Jahre war es her, dass Lucius diesen Namen ausgesprochen gehört hatte? Obwohl natürlich jeder in Kerrville schon von Tifty Lamont gehört hatte. Und von Crukshank: Die Trauer war wie ein Stich, als Lucius an seinen verlorenen Freund dachte. Vor fünf Jahren war er gestorben, als die Garnison Roswell überrannt worden war.
» Den Ort auf dieser Karte, glauben Sie, den könnten Sie wiederfinden?«
» Ich weiß es nicht. Das ist lange her.«
» Haben Sie jemals jemandem davon erzählt?«
» Als wir der Division Bericht erstatteten, wurden wir unmissverständlich angewiesen, nicht darüber zu sprechen.«
» Wissen Sie noch, woher diese Anweisung kam?«
Lucius schüttelte den Kopf. » Das habe ich nie gewusst. Crukshank hatte das Kommando bei dem Einsatz, Vorhees war sein Stellvertreter. Tifty war der Aufklärer.«
» Warum Tifty?«
» Nach meiner Erfahrung konnte niemand Spuren lesen wie Tifty Lamont.«
Die Präsidentin runzelte wieder die Stirn bei der Erwähnung dieses Namens: der große Gangster Tifty Lamont, Boss des Gewerbes, der meistgesuchte Verbrecher der Stadt.
» Wie viele Leute, glauben Sie, waren da?«
» Schwer zu sagen. Viele. Der Ort war mindestens doppelt so groß wie Kerrville. Nach allem, was wir sehen konnten, waren sie auch gut bewaffnet.«
» Hatten sie Strom?«
» Ja, aber ich glaube nicht, dass die Versorgung auf Öl basierte. Eher auf Wasserkraft, und für die Fahrzeuge hatten sie Biodiesel. Die landwirtschaftlichen und industriellen Komplexe waren riesig. Barackenunterkünfte. Drei große Gebäude, eins in der Mitte, eine Art Kuppel, eins im Süden, das aussah wie ein altes Football-Stadion, und das dritte auf der Westseite des Flusses. Wir konnten nicht genau erkennen, was es war. Sah aus, als sei es noch im Bau. Sie arbeiteten Tag und Nacht an dem Ding.«
» Und Sie haben keinen Kontakt aufgenommen?«
» Nein.«
Die Präsidentin lenkte seine Aufmerksamkeit auf die markierte Umfriedung. » Das hier…«
» Befestigungen. Umzäunungsanlagen. Nicht unbeträchtlich, aber auch nicht massiv genug, um die Dracs draußen zu halten.«
» Wozu, glauben Sie, waren sie dann gedacht?«
» Kann ich nicht sagen. Crukshank hatte da allerdings eine Theorie.«
» Nämlich?«
» Um die Leute drinnen zu halten.«
Die Präsidentin warf einen Blick auf die Karte und sah dann Lucius an. » Und Sie haben nie darüber gesprochen? Mit niemandem?«
» Nein, Ma’am. Bis jetzt nicht.«
Sie schwiegen. Lucius hatte den Eindruck, dass keine weiteren Fragen zu erwarten waren. Die Präsidentin hatte gehört, was sie hatte hören wollen. Sie schob die Zeichnung wieder in ihre Mappe. Als sie aufstand, sagte Lucius:
» Wenn Sie gestatten, Madam President– warum fragen Sie mich jetzt danach? Nach all den Jahren?«
Die Präsidentin ging zur Tür und klopfte zweimal. Der Schlüssel drehte
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