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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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Tasche ihres Kittels. Dann richtete sie sich auf.
    » Jackie«, sagte sie leise, » wach auf.«
    Die alte Frau lag zusammengekrümmt wie ein Embryo unter ihrer Decke. Ihre feuchten Augen starrten stumpf in das graue Licht, das durch die Oberlichter in die Baracke fiel. Sara hatte sie die ganze Nacht husten gehört.
    » Das Licht«, sagte Jackie. » Es sieht aus wie Winter.«
    Sara befühlte ihre Stirn. Keine Spur von Fieber. Im Gegenteil, die Frau fühlte sich kalt an. Es war schwer zu sagen, wie alt Jackie war. Sie war im Flachland geboren, aber ihre Eltern waren von woanders gekommen. Es war nicht Jackies Art, von früher zu reden, doch Sara wusste, dass sie drei Kinder und einen Mann überlebt hatte; Letzterer war zum Fressplatz geschickt worden, weil er das Verbrechen begangen hatte, einem Freund zu Hilfe zu kommen, der von einem Kol verprügelt wurde.
    Der Raum leerte sich schnell. » Jackie, bitte.« Sara rüttelte an ihrer Schulter. » Ich weiß, du bist müde, aber wir müssen wirklich los.«
    Die Augen der Frau konzentrierten sich auf Sara. Ein trockener Husten schüttelte sie.
    » Entschuldige, Schatz«, sagte sie, als der Anfall vorbei war, » ich will nicht bockig sein.«
    » Ich möchte nur das Frühstück nicht verpassen. Du musst was essen.«
    » Du sorgst für mich wie immer. Hilf einer alten Frau herunter, ja?«
    Sara hielt Jackie die Schulter hin, damit sie sich aufstützen konnte, und ließ sie langsam auf den Boden herunter. Der Körper der alten Frau war praktisch gewichtslos, eine Gestalt aus Strichen und Luft. Wieder rasselte der Husten in ihrer Brust; es hörte sich an, als schüttelte man einen Sack Kieselsteine. Langsam richtete sie sich auf.
    » So.« Jackie brauchte einen Augenblick, um zu schlucken. Ihr Gesicht war rot, und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. » Schon besser.«
    Sara zog die Decke aus ihrer Koje und legte sie ihr um die Schultern. » Es wird kalt heute. Bleib bei mir, okay?«
    Lippen dehnten sich zu einem zahnlosen Lächeln. » Wo sollte ich denn hingehen, Schatz?«
    Sara hatte nur flüchtige Erinnerungen an ihre Gefangennahme. Das Gefühl des sicheren Todes, alles aus und vorbei, und dann hatte eine gewaltige Kraft von gnadenloser Energie sie gepackt. Ein kurzer Blick auf den Boden, der unter ihr zurückwich, als der Viral sie in die Höhe schleuderte– warum hatte er sie nicht einfach umgebracht?–, und ein heftiger Ruck, als sie wieder gepackt wurde, aus der Luft gefangen von dem zweiten Viral und dann vom dritten und so weiter. Und jeder Salto, den sie schlug, katapultierte sie weiter weg von den Mauern und Lichtern der Garnison in die alles umhüllende Dunkelheit. Sie flog von einer Hand zur anderen wie ein Ball in einem Kinderspiel, weit außerhalb der Grenzen ihres Fassungsvermögens, und mit einem letzten, hirnerschütternden Aufprall landete sie in dem Lastwagen. Dann das grauenvolle Erwachen, als steige sie auf einer Leiter aus der Hölle in die Hölle. Tage ohne Wasser, ohne Essen. Endlose Stunden lang durchgerüttelt bis auf die Knochen. Geflüsterte Fragen ohne Antworten. Wohin fuhren sie? Was passierte mit ihnen? Fast alle Gefangenen waren Frauen, die zu dem in Roswell stationierten Zivilcorps gehörten, aber eine Handvoll Soldaten war auch unter ihnen. Die Schreie der Verletzten und Verängstigten. Die alles erstickende Dunkelheit.
    Sara war erst bei der Ankunft wieder ganz bei Bewusstsein gewesen. Es war, als habe sich die Zeit während der Fahrt ausgedehnt, nur um wieder in ihre normale Form zurückzuschnellen, als die Tür sich öffnete. Verwirrendes Tageslicht flutete herein und beleuchtete… was? Mehr als die Hälfte der menschlichen Ladung im Lastwagen war verendet. Ein paar waren schon gleich am Anfang tot gewesen und füllten die Kammer mit Verwesungsgestank; andere waren an den Verletzungen gestorben, die sie bei der Gefangennahme erlitten hatten, und die Übrigen waren einer Kombination aus Hunger, Durst und erstickender Hoffnungslosigkeit erlegen.
    Sara lag auf dem Boden wie alle andern, die Lebenden und die Toten, mit unbeweglichen Gliedern und geschwollener Zunge. Ihr Rücken drückte sich an die glänzende Wand des Containers, und sie blinzelte im ungewohnt grellen Licht wie ein Baby, das plötzlich aus dem Mutterleib gekommen ist. Es war, als hätten ihre körperlichen Proportionen sich umgekehrt, sodass der Kopf jetzt den größten Teil ihrer Masse besaß. Sie hatte schon viele Leute sterben sehen, aber zwischen den Toten zu liegen

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