Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
einer Kammer, winzig wie eine Schachtel. Darin stand ein Stuhl, aber er war anders als alle Stühle, die sie je gesehen hatte: Es war eine bedrohlich aussehende Konstruktion aus rissigem rotem Leder und Stahl mit einer um fünfundvierzig Grad nach hinten geneigten Rückenlehne und Anschnallgurten für Brust, Hand- und Fußgelenke. Darüber hing lauernd eine Armatur mit blanken Metallinstrumenten wie eine langbeinige Spinne, die sich am seidenen Faden herunterließ. Der Wärter schob sie darauf zu.
» Setzen.«
Er schnallte sie fest und verschwand. Von draußen kam plötzlich ein ominös schrill klingendes Geräusch. Schrie da jemand? Sara spürte eine aufsteigende Übelkeit, und sie hätte sich übergeben, wenn sie etwas im Magen gehabt hätte. Ihre letzten Schutzmauern brachen zusammen. Sie würde betteln. Sie würde flehen. Sie hatte keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.
Die Tür hinter ihr öffnete sich. Ein Mann trat in ihr Blickfeld; er trug einen grauen Kittel. Er hatte ein rundes Bäuchlein, auf seiner Nasenspitze saß eine getönte Brille, und seine buschigen Augenbrauen waren wie Flügel aufwärts geschwungen. Sein Gesicht hatte etwas Gütiges, beinahe Großväterliches. Wie der Wachmann am Tisch schaute er auf ein Clipboard. Schließlich hob er den Blick und lächelte.
» Sara, ja?«
Sie nickte. In ihrem Mund war der Geschmack von Galle.
» Ich bin Doktor Verlyn.« Er warf einen Blick auf die Gurte und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. » Diese Leute sind Idioten. Ordinäre Rowdys, wenn Sie mich fragen. Ich wette, Sie sind völlig verhungert. Mal sehen, ob wir Sie hier fix herausbekommen können.«
Einen Moment lang hatte sie einen Funken Hoffnung– vielleicht hatte er ja vor, sie freizulassen–, aber als er sich einen Stuhl heranzog und ein Paar Gummihandschuhe anzog, begriff sie, dass er etwas anderes meinte. Er umfasste ihr Kinn und drückte den Unterkiefer herunter, spähte in ihren Mund und hielt dann vor ihrem Gesicht zwei Finger hoch.
» Mit den Augen folgen, bitte.«
Sara folgte seinen Fingern, als sie eine Acht beschrieben und dann zurückwichen. Er fühlte ihren Puls, zog ein Stethoskop aus seiner Kitteltasche und hörte ihren Herzschlag ab. Dann setzte er sich kerzengerade auf, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Clipboard und blinzelte durch die Brille.
» Irgendwelche Gesundheitsprobleme, die Ihnen bekannt sind? Parasiten, Infektionen, Nachtschweiß, Schwierigkeiten beim Wasserlassen?«
Sara schüttelte den Kopf.
» Wie steht’s mit der Menstruation?« Er machte Häkchen auf seinem Clipboard. » Gibt es da irgendwelche Probleme? Übermäßige Blutungen zum Beispiel?«
» Nein.«
» Hier steht, Sie sind…« Er blätterte in seinen Unterlagen. » Einundzwanzig. Ist das richtig?«
» Ja.«
» Schon mal schwanger gewesen?«
Etwas krampfte sich in ihr zusammen.
» Das ist eine einfache Frage.«
Sie schüttelte den Kopf. » Nein.«
Wenn er ihre Lüge durchschaute, ließ er es sich nicht anmerken. Das Clipboard fiel auf seinen Schoß. » Tja, anscheinend sind Sie kerngesund. Wunderbare Zähne, wenn ich das sagen darf. Da müssen wir gar nichts tun.«
Sollte sie sich dafür bedanken? Über ihrem Gesicht hing immer noch drohend die Spinne und glänzte unheilvoll.
» Na, dann wollen wir sehen, dass wir es schnell hinter uns bringen, damit es mit Ihnen weitergehen kann.«
Plötzlich hatte sich etwas verändert. Sara spürte es, als seine Gesichtszüge sich plötzlich verhärteten, aber es war nicht nur das. Es war, als habe die Luft im Raum eine subtile Wandlung erfahren. Der Doktor fing an, energisch pumpend auf ein Pedal unter ihrem Stuhl zu treten, was ein sirrendes Geräusch hervorrief. Er langte über ihrem Gesicht nach oben und zog eins der Spinnenbeine herunter, an dessen Spitze im Tempo seiner Fußbewegungen ein Bohrer schwirrte.
» Es wird leichter gehen, wenn Sie sich nicht bewegen.«
Ein paar Minuten später stand Sara draußen in der Frühlingssonne und drückte ihre armselige Habe an die Brust. Als sie angefangen hatte zu schreien, hatte der Doktor ihr einen Lederriemen gegeben, auf den sie beißen konnte. In der blassen, verätzten Haut an der Innenseite ihres Unterarms saß ein glänzendes Metallschild, in das die Ziffernfolge graviert war, die sie schon auf dem Papier gesehen hatte: 94801. Das sind Sie jetzt, hatte der Doktor erklärt und ihr den Riemen mit ihren Zahnabdrücken aus dem Mund genommen. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und war zum
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