Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
hatten sich zu Boden fallen lassen und rollten sich zusammen wie Babys in ihren Betten. Es war ein ungeheuerlicher Anblick, den Peter in seinem ganzen Leben nicht mehr vergessen sollte, aber er verblasste im Vergleich zu dem, was über dem Podest geschah.
Etwas passierte mit Amy. Sie stemmte sich gegen die Ketten, geschüttelt von so heftigen Krämpfen, dass es schien, als werde es sie zerreißen. Zuckung folgte auf Zuckung, und jede war heftiger als die vorige. Mit einem letzten knochenbrecherischen Ruck erschlaffte sie, und einen hoffnungsvollen Moment lang dachte Peter, es sei vorbei.
Aber es war nicht vorbei.
Mit einem tiefen animalischen Heulen warf Amy den Kopf zurück, und jetzt verstand Peter, was er sah. Etwas, das sonst Stunden dauerte, vollzog sich in Sekunden. Die Gesichtszüge zerschmolzen zu fötaler Unbestimmtheit. Das Rückgrat verlängerte sich, Finger und Zehen wuchsen zu Greifklauen. Haare fielen aus, neue Zähne stießen vorne durch, und die Haut verhärtete sich zu einem dicken, kristallinen Panzer. Ein Leuchten umgab ihre Gestalt, als glühe die Luft von der beschleunigten Kraft der Verwandlung. Mit einem wütenden Ruck riss Amy die Ketten vor die Brust und brach sie mühelos aus ihrer Verankerung. Als sie auf dem Boden landete und sich mit fließender Anmut zusammenduckte, um den Aufprall zu mildern, waren nicht elf Virals auf dem Spielfeld, sondern zwölf.
Es waren zwölf.
Sie richtete sich auf. Sie brüllte.
Im selben Augenblick reichten Lila Kyle und Lawrence Grey, von deren Schicksal man nie etwas erfahren würde, einander im Keller der Kuppel die Hand, zählten bis drei und rissen das Streichholz an. Alle Lichter gingen aus.
65
Die Explosion von dreitausendzweihundert Pfund hochkomprimiertem Diäthyläther-Inhalationsmittel setzte eine Energie frei, die ungefähr dem Absturz eines kleinen Passagierflugzeugs entsprach. Da jeder andere Weg versperrt war, schoss die Druckwelle aufwärts in jeden Kanal, der die rapide Ausdehnung des sauerstoffangereicherten Gemischs aufnehmen konnte– Treppenhäuser, Flure, Leitungsschächte–, bevor sie alles in die Luft sprengte. Fenster barsten. Möbel flogen durch die Luft. Wände waren plötzlich nicht mehr da. Die Explosion stieg in die Höhe, und dabei schleuderte sie eine spiralförmige Spur reinster Zerstörung von sich nach außen wie ein umgestülpter Tornado. Aus ihrem weißglühenden Herzen flogen die Trümmer aufwärts und davon, bis schließlich das Gerippe des Gebäudes in sich zusammenbrach, die Stahlträger und sorgsam gemeißelten Kalksteinblöcke, die das gewölbte Dach über die Prärie von Iowa erhoben hatten seit den Tagen der Pioniere. Alles wurde in Stücke gerissen.
Die Kuppel stürzte ein.
Drei Meilen weit entfernt erlebten die Zuschauer im Stadion die Zerstörung der Kuppel als eine Kette von sensorisch ganz unterschiedlich wahrgenommenen Ereignissen: Erst kam ein Blitz, dann ein Donner und schließlich ein dumpfes seismisches Rumpeln. Eine schwarze Faust legte sich auf die Stadt, als die Stromversorgung zusammenbrach. Alle erstarrten, doch schon im nächsten Augenblick veränderte sich etwas. Eine neue Kraft erwachte in ihnen zum Leben. Wer konnte sagen, wer sie geweckt hatte? Die auf den Tribünen verteilten Rebellen hatten den Angriff auf die Kols bereits begonnen, aber jetzt waren sie nicht mehr allein. Die Menge griff zur Gewalt und wurde zu einem rasenden Mob. So wild war ihre ungehemmte Wut, dass sie über ihre Bewacher herfielen, als hätte ihre Individualität sich in einem einzigen animalischen Kollektiv aufgelöst. Eine Stampede. Ein Schwarm. Sie hörten auf, Sklaven zu sein, und wurden so lebendig.
Auf dem Spielfeld war Guilder dabei… sich aufzulösen.
Er spürte es zuerst in den Handrücken. Die Haut zog sich plötzlich zusammen, spannte sich wie Klarsichtfolie. Er hielt die Hände vor sein Gesicht, und in fühlloser Fassungslosigkeit– der Schmerz hatte noch nicht begonnen– sah er, wie die Haut auf seinen Händen in langen, unblutigen Nähten aufplatzte. Das Gefühl breitete sich am ganzen Körper aus. Seine Fingerspitzen tasteten nach seinem Gesicht. Es war, als berühre er einen Totenschädel. Die Haare fielen ihm aus, die Zähne. Sein Rücken krümmte sich, er stand vornübergebeugt da wie ein alter Mann. Guilder fiel im Schlamm auf die Knie und spürte, wie seine Knochen brachen und zu Staub zerbröselten.
» Grey, was hast du getan?«
Ein Schatten legte sich über ihn.
Guilder hob den Kopf.
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