Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
mir.«
Und? Was denn? Sag dein Sprüchlein auf und lass mich in Ruhe.
Aber was wollte Guilder sagen? Ich sterbe? Alle hier sterben, auch wenn sie es noch nicht wissen? Welchen Sinn hätte eine solche Information? Beim nächsten Gedanken lief es ihm eiskalt über den Rücken. Was würde aus seinem Vater werden, wenn alle verschwunden wären, die Ärzte, die Schwestern, die Pfleger? Bei allem, was in den letzten paar Wochen passiert war, hatte Guilder zu viel um die Ohren gehabt, um sich über diese Möglichkeit Gedanken zu machen. Die Stadt wurde immer leerer: Bald, in ein paar Wochen oder sogar Tagen, würden alle um ihr Leben rennen. Guilder erinnerte sich, was in New Orleans passiert war, in den Nachwehen der Hurrikans, erst Katrina, dann Vanessa– an die Geschichten von alten Patienten, die in ihren eigenen Ausscheidungen gelegen hatten und an Hunger und Flüssigkeitsmangel langsam zugrunde gegangen waren.
Hörst du mir zu, Sohnemann? Hockst da und guckst blöde. Was ist so verflucht wichtig, dass du es mir erzählen müsstest?
Guilder schüttelte den Kopf. » Ist nichts weiter, Pop. Nichts Wichtiges.« Er fütterte seinen Vater mit dem Rest des Puddings und wischte ihm mit dem Lappen über den Mund. » Ruh dich ein bisschen aus, okay?«, sagte er. » Ich komme in ein paar Tagen wieder.«
Deine Mutter war eine Hure, weißt du. Eine Hure eine Hure eine Hure …
Guilder ging hinaus. Im leeren Flur blieb er stehen und atmete durch. Die Stimme war seine eigene; das war ihm durchaus klar. Aber es kam ihm immer noch manchmal so vor, als sei es mehr– als habe der Geist seines Vaters seine leibliche Gestalt verlassen und sich in seinem Sohn niedergelassen.
Er kehrte zur Anmeldung zurück. Die Schwester, die dort saß, eine junge Latina, arbeitete mit Bleistift an einem Kreuzworträtsel.
» Mein Vater braucht eine frische Windel.«
Sie blickte nicht auf. » Die brauchen alle eine frische Windel.« Als Guilder sich nicht von der Stelle rührte, schnellte ihr Blick von dem Rätsel hoch. Ihre Augen waren dunkel und dick umrandet. » Ich rufe jemanden.«
» Bitte tun Sie das.«
An der Tür blieb er stehen. Die Schwester war schon wieder mit ihrem Kreuzworträtsel beschäftigt.
» Jetzt rufen Sie endlich jemanden, verdammt noch mal.«
» Ich sage doch, ich mach’s.«
Ein wütender Beschützerdrang überkam ihn, und am liebsten hätte er ihr den Bleistift in die Kehle gerammt. » Nehmen Sie den beschissenen Hörer in die Hand, wenn Sie die Windel schon nicht selbst wechseln wollen.«
Mit eingeschnapptem Schnaufen griff sie zum Telefon und wählte. » Mona hier, von der Anmeldung. Guilder in 126 braucht frische Windeln. Ja, sein Sohn ist hier. Okay, ich sag’s ihm.« Sie legte auf. » Glücklich?«
Die Frage war so absurd, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte.
Guilder würde nicht sterben wie sein Vater– im Gegenteil. ALS : Amyotrophe Lateralsklerose, besser bekannt als Lou-Gehrig-Syndrom. Die größeren motorischen Funktionen würden als Erste versagen, die Muskeln würden zuckend zur Nutzlosigkeit erschlaffen, und als Nächstes verschwände die Fähigkeit, zu sprechen und zu schlucken. Das spontane Lachen und Weinen war ein Rätsel– niemand wusste genau, wie es dazu kam. Am Ende würde er an einem Beatmungsgerät sterben, körperlich absolut reglos, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Aber das Schlimmste war, dass die Fähigkeit, vernünftig zu denken, unvermindert erhalten bleiben würde. Anders als sein Vater, den als Erstes der Verstand verließ, würde Guilder jeden Augenblick seines Verfalls in vollem Bewusstsein erleben. Ein lebender Toter, dem nur eine mürrische Schwester Gesellschaft leistete.
Ihm war klar, dass er nach der Diagnose für eine Weile in einen abgrundtiefen Schock verfallen war. Damit erklärte er sich die Dummheit, die er mit Shawna begangen hatte– aber das war natürlich nicht mal ihr richtiger Name. Zwei Jahre lang hatte Guilder sie am zweiten Dienstag jedes Monats besucht, immer in dem Apartment, das ihre Arbeitgeber ihr stellten. Sie war dunkelhäutig und schlank, hatte leicht asiatisch anmutende Augen und war jung genug, um seine Tochter zu sein, auch wenn es nicht das war, was er anziehend fand; lieber wäre es ihm gewesen, wenn sie älter gewesen wäre. Gefunden hatte er sie durch einen Escort-Service, aber nach einer gewissen Bewährungsphase hatte er sie direkt anrufen dürfen. Beim ersten Mal war er so nervös wie ein College-Student gewesen. Es war
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