Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
Vom Netzwerk:
eine Weile her gewesen, dass er mit einer Frau zusammen gewesen war, und unversehens befürchtete er, den Ansprüchen nicht zu genügen– eine lächerliche Sorge, wie sich im Rückblick zeigte. Das Mädchen hatte ihn schnell beruhigt und die Situation in die Hand genommen. Das Ritual war immer gleich. Guilder drückte draußen auf den Klingelknopf, der Türöffner summte, und er stieg die Treppe zum Apartment hinauf, wo sie ihn einladend lächelnd in der offenen Tür erwartete. Sie trug ein schwarzes Cocktailkleid, unter dem sich eine erotische Kostbarkeit aus Spitze und Seide verbarg. Auf ein paar freundliche Worte, wie sie zwei gewöhnliche Verliebte wechseln konnten, die sich nachmittags trafen, folgte das wortlose Deponieren eines Bargeldumschlags auf der Kommode, und dann kam die Sache selbst. Guilder zog sich immer als Erster aus und sah dann zu, wie sie es tat; sie ließ das Cocktailkleid auf den Boden fallen wie einen Vorhang, bevor sie würdevoll zur Seite trat. Die Hingabe, die sie zeigte, wenn sie mit ihm schlief, wirkte weder gekünstelt noch übermäßig professionell, und in diesen knappen Minuten fand Guilder im Geiste eine heitere Gelassenheit, der nichts sonst in seinem Leben annähernd gleichkam. Im Augenblick seines Höhepunkts sagte Shawna immer wieder seinen Namen, und ihre Stimme verlor sich in einem absolut überzeugenden Faksimile weiblicher Befriedigung, und Guilder trieb auf diesen Geräuschen und Empfindungen dahin und ließ sich von ihnen wie ein Surfer an einen ruhigen Strand tragen.
    Warum sehe ich dich nicht öfter?, fragte sie ihn nachher. Bist du glücklich mit dem, was ich tue? Es gibt doch nicht noch eine andere, oder? Ich will die Einzige für dich sein, Guilder. Sehr glücklich, sagte er dann und streichelte ihr samtweiches Haar. Ich könnte nicht glücklicher sein, als ich es mit dir bin.
    Er wusste nichts über sie– zumindest nichts über ihr eigentliches Leben. Aber in den Wochen nach seiner Diagnose lag die einzige Zuflucht, die seine Gedanken finden konnten, in der absurden Idee, er sei in sie verliebt. Die Erinnerung daran machte ihn verlegen, und der psychologische Subtext war offenkundig– er wollte nicht allein sein, wenn er starb–, doch in jener Zeit war er restlos davon überzeugt gewesen. Er war rasend und hoffnungslos verliebt– und war es denn nicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass Shawna seine Gefühle erwiderte? War es das, was sie meinte, wenn sie sagte, sie wolle die Einzige für ihn sein? Denn was sie miteinander taten und einander sagten, konnte nicht unecht sein; es geschah auf einer Ebene, die nur zwei wirklich miteinander verbundene Menschen teilen konnten.
    Und so weiter und so fort– bis er sich so weit hineingesteigert hatte, dass er nur noch an Shawna denken konnte. Er beschloss, ihr etwas zu schenken: ein Zeichen seiner Liebe. Etwas Teures, das seiner Gefühle würdig wäre. Schmuck. Es musste Schmuck sein. Und nicht etwas Neues aus dem Geschäft, sondern etwas Persönlicheres: das Diamantenarmband seiner Mutter. Dieser Entschluss gab ihm neue Energie. Er wickelte das Tiffany-Etui in Silberpapier und fuhr zu Shawnas Apartment. Es war kein Dienstag, aber das war egal. Was er fühlte, passte in keinen Terminkalender. Er läutete und wartete. Minuten vergingen, und das war merkwürdig. Shawna öffnete immer prompt. Er läutete noch einmal. Jetzt kam ein kurzes Rauschen aus der Sprechanlage, und er hörte ihre Stimme. » Hallo?«
    » Hier ist Horace.«
    Es war kurz still. » Ich habe nicht mit dir gerechnet. Oder? Vielleicht ist es meine Schuld. Hast du angerufen?«
    » Ich habe etwas für dich.«
    Es klang, als sei die Sprechanlage plötzlich tot. Dann sagte sie: » Warte einen Moment.«
    Ein paar Minuten vergingen. Dann hörte Guilder Schritte auf der Treppe. Vielleicht funktionierte der Türöffner nicht, und Shawna kam herunter, um ihm aufzumachen. Aber die Gestalt, die um die Ecke bog, war nicht Shawna, sondern ein Mann. Er war schätzungsweise sechzig, kahlköpfig und gedrungen und hatte das Schweinsgesicht eines russischen Gangsters. Er trug einen zerknautschten Nadelstreifenanzug, und die Krawatte hing ihm lose um den Hals. Was das bedeutete, lag auf der Hand, doch in seinem erregten Zustand weigerte Guilders Verstand sich, es zu sehen. Der Mann kam durch die Tür und warf Guilder im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick zu.
    » Glückspilz«, sagte er augenzwinkernd.
    Guilder lief die Treppe hinauf. Er klopfte dreimal und wartete mit

Weitere Kostenlose Bücher