Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
wie jetzt im Sterben– ein Mann von nahezu reptilischer Kälte gewesen. Guilder wusste, dass sein Vater einfach so erzogen worden war– seine Familie waren einfache Milchbauern gewesen, die dreimal wöchentlich in die Kirche gingen und ihre Schweine selbst schlachteten–, und trotzdem plagte ihn gegen seinen Willen immer noch der Groll wegen einer Kindheit, die er in der Hoffnung verbracht hatte, die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erringen, der dazu einfach nicht fähig war. Es war eine Kleinigkeit gewesen, eine ganz natürliche Sache, die er da von seinem Vater verlangt hatte, indem er auf die Welt gekommen war: dass er ihn wie einen Sohn behandelte. Fangen spielen an einem Nachmittag im Herbst, ein lobendes Wort vom Spielfeldrand, ein Zeichen des Interesses an seinem Leben. Guilder hatte alles richtig gemacht. Gute Noten, pflichtbewusste Auftritte in der Aula und auf dem Sportplatz, ein Vollstipendium fürs College und ein guter Job. Aber zu alldem hatte sein Vater buchstäblich nichts zu sagen gehabt. Tatsächlich konnte Guilder sich nicht erinnern, dass sein Vater ihm auch nur ein einziges Mal gesagt hätte, er liebe ihn, oder dass er ihn zärtlich berührt hätte. Es interessierte den Mann einfach nicht.
Am meisten hatte Guilders Mutter darunter gelitten, eine von Natur aus gesellige Frau, deren Einsamkeit sie in den Alkoholismus getrieben hatte, an dem sie schließlich gestorben war. Später im Leben kam Guilder zu der Überzeugung, dass seine Mutter anderswo Trost gesucht, dass sie Affären gehabt hatte, wahrscheinlich mehr als eine. Nachdem sein Vater nach » Shadowdale« gebracht worden war, hatte Guilder das Haus in Albany ausgeräumt– ein totales Chaos, jede Schublade, jeder Schrank vollgestopft mit Plunder– und in der Frisierkommode seiner Mutter ein samtenes Tiffany-Etui gefunden. Darin hatte ein Armband gelegen– ein Diamanten armband. Wahrscheinlich hatte es so viel gekostet, wie sein Vater als Bauingenieur im Jahr verdient hatte. Er hätte es sich jedenfalls nicht leisten können, und der Fundort– versteckt im hinteren Teil einer Schublade unter einen Stapel von stockfleckigen Tüchern und Handschuhen– verriet Guilder, was er da vor sich sah: das Geschenk eines Liebhabers. Wer war das gewesen? Seine Mutter war Kanzleisekretärin gewesen. Einer der Anwälte in der Firma? Jemand, den sie zufällig kennengelernt hatte? Eine neu entfachte Romanze aus ihrer Jugend? Es freute ihn, dass seine Mutter ein bisschen Glück gefunden hatte, das ihr einsames Dasein erhellt hatte, aber gleichzeitig stürzte ihn diese Entdeckung in Depressionen, die wochenlang unvermindert angehalten hatten. Die Erinnerung an seine Mutter war seine einzige angenehme Kindheitserinnerung. Ihr Leben, ihr wahres Leben, war ihm jedoch verborgen geblieben.
Die Besuche bei seinem Vater ließen diese Erinnerungen immer wieder an die Oberfläche steigen; wenn er dann ging, konnte er vor lauter Niedergeschlagenheit oder unterdrückter Wut oft kaum noch klar denken. Siebenundfünfzig Jahre alt, und noch immer sehnte er sich nach einem Fünkchen Anerkennung.
Er stellte den einzigen Stuhl im Zimmer vor seinem Vater auf. Der Schädel des Alten, kahl wie ein Babykopf, war schief zur Schulter geneigt. Guilder nahm einen Lappen vom Nachttisch und wischte ihm den Speichel vom Kinn. Ein geöffneter Becher mit Vanillepudding stand auf einem Tablett neben dem Rollstuhl, daneben lag ein kümmerlicher Blechlöffel.
» Und wie fühlst du dich, Pop? Behandeln sie dich einigermaßen?«
Schweigen. Und doch hörte Guilder, wie die Stimme seines Vaters die Hohlräume in seinem Kopf ausfüllte.
Soll das ein Witz sein? Sieh mich doch an, Herrgott. Ich kann nicht mal anständig kacken. Und alle reden mit mir wie mit ’nem Kind. Was glaubst du, wie ich mich fühle, Sohnemann?
» Ich sehe, du hast deinen Nachtisch nicht gegessen. Möchtest du Pudding? Wie wär’s damit?«
Scheißpudding! Was anderes geben sie mir hier nicht. Pudding zum Frühstück, Pudding zum Mittagessen, Pudding zum Abendbrot. Das Zeug schmeckt wie Rotze.
Guilder schob seinem Vater einen Löffelvoll zwischen die Zähne. Reflexartig schluckte der alte Mann das Zeug hinunter.
Sieh mich an. Glaubst du, das gefällt mir? Mich zu besabbern und in meiner eigenen Pisse zu sitzen?
» Ich weiß nicht, ob du in letzter Zeit die Nachrichten verfolgt hast.« Guilder schob seinem Vater den nächsten Löffel in den Mund. » Da gibt’s was, das du wissen solltest, dachte ich
Weitere Kostenlose Bücher