Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
gegeben, da hatte er sich als Sportler betrachtet– auf dem College war er Cross Country gelaufen–, aber das war lange her. Seine Arbeit und die damit verbundenen Geheimhaltungsanforderungen waren mit einer Ehe schwer vereinbar gewesen, aber selbst als Mittvierziger hatte Guilder es immer noch geschafft, Frauen aufzugabeln, auch wenn sie sich nicht gerade auf der Straße nach ihm umdrehten. Eine Reihe von diskreten Affären, wobei keiner der Beteiligten sich irgendwelche Illusionen machte. Er war immer stolz auf das geschmeidige Management dieser Affären gewesen, eines Tages aber hatte das alles einfach aufgehört. Blicke, die sonst vielleicht erwidert worden waren, glitten an ihm vorbei. Unterhaltungen, die bis dahin nur als einleitende Präambeln gedient hatten, führten nirgends mehr hin. Vermutlich unausweichlich, dachte Guilder, wenngleich kein Grund zum Jubeln. Er schaute in den Spiegel und machte eine Bestandsaufnahme. Ein kantiges Gesicht, das einmal markant ausgesehen hatte, dessen Wangen aber längst erschlafft waren. Schütteres, nach hinten gekämmtes Haar. Tränensäcke unter den Augen, ein gummiartiger Wulst über den Hüften, dünne, kraftlos aussehende Beine. Kein hübscher Anblick, aber nichts, was er nicht als Teil des unvermeidlichen Alterungsprozesses akzeptiert hätte.
Wenn man ihn ansah, käme man nicht auf die Idee, dass er starb.
Er duschte und zog einen sauberen Anzug an. Sein Schrank enthielt fast nichts anderes. Ohne Anzug kam er sich nackt vor. Meistens trug er einen dunkelblauen Einreiher, manchmal auch einen anthrazitfarbenen mit Nadelstreifen und im Sommer gelegentlich einen khakifarbenen aus Popeline– immer mit einem taubenblauen oder weiß gestärkten Hemd und einer Krawatte, so neutral wie die Schweiz. Er achtete auf sein Gleichgewicht, als er die Treppe ins Wohnzimmer hinunterstieg, wo der Fernseher pflichtbewusst die Parade der schlechten Nachrichten heraustrompetete. Er hatte keinen Appetit, stellte aber trotzdem eine tiefgefrorene Lasagne in die Mikrowelle und blieb davor stehen, während die Sekunden dahintickten. Dann setzte er sich an den Tisch und versuchte nach besten Kräften zu essen, aber das Diazepam bewirkte, dass alles nach nichts und leicht metallisch schmeckte. Seine Kehle war immer noch wie zugeschnürt, als trüge er einen um zwei Nummern zu kleinen Kragen. Sein Arzt hatte ihm vorgeschlagen, es mit Milkshakes zu versuchen oder mit etwas Weichem wie Maccaroni, doch die Rückkehr zur Kindernahrung ertrug er nicht. Von da an würde alles nur noch bergab gehen.
Er kippte die ungegessene Lasagne in den Müllschlucker und sah wieder auf die Uhr. Kurz nach neun. Na, was immer in der Mitte des Landes passierte, passierte jetzt. Nelson würde anrufen, wenn er ihn brauchte.
Er verließ das Townhouse und fuhr nach McLean. Was vor ihm lag, war eine unangenehme Pflicht, aber Guilder war der Einzige, der sie erfüllen konnte. Die Anlage lag ein Stück abseits der Straße, hinter einer weiten grünen Rasenfläche. Auf einem diskreten Schild an der Einfahrt stand » Shadowdale-Pflegeheim«. Guilder legte der Krankenschwester an der Anmeldung seinen Führerschein vor und ging dann weiter durch den nach Medizin riechenden Korridor mit den in Massen produzierten Drucken von grünen Feldern und Sommersonnenuntergängen an den Wänden. Selbst für diese Uhrzeit war es extrem ruhig hier; meistens waren noch ein paar Pfleger unterwegs, und im Aufenthaltsraum saßen diejenigen Patienten, die mit menschlicher Gesellschaft noch etwas anfangen konnten. Heute Abend war allerdings alles wie ausgestorben.
Am Zimmer seines Vaters klopfte er behutsam an die Tür und öffnete sie dann, ohne auf Antwort zu warten.
» Pop, ich bin’s.«
Sein Vater saß aufrecht in seinem Rollstuhl am Fenster. Sein Unterkiefer hing herunter, und die Muskeln seines Gesichts waren schlaff wie Pfannkuchenteig. Ein Speichelfaden baumelte von seinem Mund zu dem Papierlätzchen vor seiner Brust. Jemand hatte ihm einen fleckigen Trainingsanzug und orthopädische Schuhe mit Klettverschlüssen angezogen. Er zeigte nicht, dass er Guilder erkannte.
» Wie geht’s, Pop?«
Die Luft, die seinen Vater umgab, roch scharf nach Urin. Sein Alzheimer hatte ein Stadium erreicht, in dem er niemanden mehr erkannte, aber man musste trotzdem so tun als ob. Wie furchterregend, dachte Guilder, war diese Einsamkeit des Geistes. Das Schweigen seines Vaters, das Gefühl der Abwesenheit, war indes nichts Neues. Er war im Leben–
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