Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
seinem Townhouse zurück, fuhr in die Garage, stellte den Motor ab und schloss das Tor mit der Fernbedienung. Volle dreißig Minuten blieb er im Wagen sitzen und brachte nicht die Energie auf, sich zu bewegen. Er starb. Er hatte sich lächerlich gemacht. Er würde Shawna nie wiedersehen, denn er bedeutete ihr nichts.
Jetzt begriff er, warum er immer noch in seinem Camry saß. Er brauchte ja nur den Motor wieder zu starten. Es wäre wie Einschlafen. Er würde nie wieder an Shawna oder an das Projekt NOAH denken, nicht länger im Gefängnis seines verfallenden Körpers leben oder seinen Vater im Pflegeheim besuchen müssen. Nichts mehr. Alle seine Sorgen wären vorbei, einfach so. Einem Impuls folgend, den er nicht erklären konnte, nahm er die Uhr ab, zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und legte beides auf die Ablage, als wolle er zu Bett gehen. Wahrscheinlich war es üblich, einen Brief zu schreiben, aber was sollte er sagen? Für wen sollte der Brief sein?
Drei Mal versuchte er, sich dazu zu bringen, den Schlüssel umzudrehen. Drei Mal ließ ihn seine Entschlossenheit im Stich. Inzwischen kam er sich albern vor, wie er so in der Garage in seinem Auto saß– eine weitere Demütigung. Dann blieb ihm nichts weiter übrig, als die Uhr wieder anzulegen, das Portemonnaie wieder einzustecken und ins Haus zu gehen.
Als Guilder vom Pflegeheim nach Hause fuhr, summte sein Smartphone. Nelson.
» Sie rücken vor.«
» Wo?«
» Überall. Utah, Wyoming, Nebraska. In West-Kansas sammeln sich besonders viele.« Er schwieg kurz. » Aber darum rufe ich nicht an.«
Guilder fuhr geradewegs ins Büro. Nelson erwartete ihn auf dem Flur. » Wir haben das Signal kurz vor Sonnenuntergang aufgefangen. Von einem Mast westlich von Denver, in einem Ort namens Silver Plume. War nicht ganz einfach, aber der Heimatschutz war mir noch ein paar Gefälligkeiten schuldig. Die haben eine Drohne umgeleitet, um zu sehen, ob wir nicht ein Bild bekommen können.«
An seinem Terminal zeigte er Guilder das Foto, ein körniges Schwarz-Weiß-Bild. Es war nicht das Mädchen, sondern ein Mann. Er stand neben einem Pick-up am Rand des Highways, und es sah aus, als ob er pinkelte.
» Wer zum Teufel ist das? Einer der Docs?«
» Einer von Richards’ Typen.«
Guilder war perplex. » Was reden Sie da?«
Einen Moment lang wirkte Nelson ein bisschen verlegen. » Sorry, ich dachte, Sie wären da informiert. Das sind Sexualstraftäter auf Bewährung. Eins von Richards’ kleinen Projekten. Aus Sicherheitsgründen wurde das gesamte zivile Personal der sechsten Ebene aus Pädophilen rekrutiert, die zum Tode verurteilt waren.«
» Sie verarschen mich.«
» Ich verarsche Sie nicht.« Nelson tippte auf die Gestalt auf dem Foto. » Der Typ da? Unser einsamer Überlebender aus dem Projekt NOAH ? Das ist so ein verschissener Pädophiler.«
9
Greys Pick-up verreckte am späten Vormittag des zweiten Tages unterwegs.
Es war kurz vor Mittag, und die Sonne stand hoch am Himmel. Nach einer unruhigen Nacht in einem Motel6 in der Nähe von Leadville war Grey in der Nähe von Vail auf die I-70 gestoßen und in Richtung Denver hinuntergefahren. Ostwärts bis zur Stadt Golden war der Überlandkorridor weitgehend frei gewesen, aber als er den äußeren Vorortring der Stadt mit seinen sportplatzgroßen Shoppingcentern erreichte, änderte sich die Lage. Der Highway war teilweise durch verlassene Fahrzeuge blockiert, sodass er gezwungen war, auf den Randstreifen auszuweichen. Die riesigen Parkplätze am Rande des Highways boten ein Bild des erstarrten Chaos. Schaufenster waren eingeschlagen, Waren auf dem Asphalt verstreut. Auch die Stille war hier anders– nicht die schlichte Abwesenheit von Geräuschen, sondern etwas Tieferes, Bedrohlicheres. Viele der Leichen, die er hier sah, waren kopflos wie der Hosenträgermann vor dem » Red Roof«. Vermutlich, dachte Grey, rissen Zero und die anderen ihnen gern die Köpfe ab.
Er hielt den Blick nach Möglichkeit auf die Straße gerichtet und drängte Blut und Zerstörung an den Rand seines Gesichtsfelds. Die unheimliche, summende Energie, die er im » Red Roof« verspürt hatte, war nicht verflogen. Sein Gehirn vibrierte wie eine angeschlagene Saite. Er hatte seit anderthalb Tagen nicht geschlafen, aber er war nicht müde. Auch nicht hungrig– und das passte überhaupt nicht zu ihm. Grey fraß sonst wie ein Scheunendrescher, doch aus irgendeinem Grund mochte er nicht einmal an Essen denken. In Leadville hatte er sich
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