Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
hatte– weiße Boxershorts, eine Jeans und ein kariertes Hemd–, und stellte zu seinem unaufhörlichen Erstaunen fest, dass alles ziemlich gut passte. Er warf einen letzten beifälligen Blick in den Spiegel und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo Lila auf dem Sofa saß und in einem People -Heft blätterte.
» Da sind Sie ja.« Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. » Nett sehen Sie aus.«
Er rollte die Koffer zum Volvo. Die Morgenluft war schwer von Tau, und in den Bäumen sangen die Vögel. Ein Ausflug aufs Land, dachte Grey und schüttelte den Kopf. Sie spielten Familie. Aber als er in den Kleidern eines anderen Mannes in der Einfahrt stand, kam es ihm beinahe echt vor. Es war, als sei er in ein anderes Leben getreten– vielleicht in das Leben des Mannes, dessen Jeans und kariertes Hemd seinen unversehens schlanken und muskulösen Körper zierten. Er sog die Luft tief in die Nase und weitete die Brust. Die Luft strömte frisch und sauber in seine Lunge, und sie duftete nach Gras und frischem grünem Laub und feuchter Erde. Sie enthielt keine Spur des Grauens der vergangenen Nacht– als habe das Licht des neuen Tages die Welt gereinigt.
Er schloss den Kofferraum, und als er aufblickte, stand Lila in der Haustür. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, und dann nahm sie etwas aus der Handtasche: einen Umschlag. Sie wühlte eine Rolle Malerkrepp aus der Tasche, klebte den Umschlag an die Tür und trat zurück, um ihn zu betrachten. Ein Brief?, dachte Grey. Für wen sollte der sein? Für David? Für Brad? Wahrscheinlich für einen von beiden, aber Grey hatte immer noch keine Ahnung, wer wer war. Für Lila waren sie anscheinend buchstäblich austauschbar.
» So«, verkündete sie. » Alles erledigt.« Sie kam zum Volvo und gab ihm den Schlüssel. » Wäre es Ihnen recht, wenn Sie fahren?«
Und auch das gefiel Grey.
Am besten hielten sie sich von den Hauptstraßen fern, entschied Grey, zumindest bis sie die Stadt hinter sich hatten. Es blieb unausgesprochen, aber offenbar war es Teil seiner Vereinbarung mit Lila, dass er es vermied, an Dingen vorbeizufahren, die sie aufregen konnten. Unwichtig, wie sich zeigte: Die Frau blickte kaum von ihrer Zeitschrift auf. Er schlängelte sich durch die Vororte, und als der Vormittag halb vorüber war, setzten sie ihre Fahrt auf einer Landstraße in Richtung Osten fort. Der Boden war ausgetrocknet und wellig, mit leeren Feldern, braun und schwarz wie verbrannter Toast. Die Stadt war längst hinter ihnen verschwunden, und auch die blauen Massen der Rockies lösten sich im Dunst auf. Die Landschaft erschien öde und trostlos; da war nichts als eine Spitzenborte aus Federwolken hoch oben am Himmel, die trockenen Felder und der Highway, der unter den Rädern des Volvo dahinrollte. Irgendwann gab Lila ihre Lektüre auf und schlief ein.
Es war eine unbestreitbar eigenartige Situation, aber als die Meilen und die Stunden vorüberzogen, war Greys Brust erfüllt von dem zunehmenden Gefühl, dass alles richtig war. Noch nie in seinem Leben war er irgendjemandem wirklich wichtig gewesen. Er durchsuchte seinen Kopf nach etwas, womit er dieses Gefühl vergleichen konnte. Das Einzige, was ihm einfiel, war die Geschichte von Maria und Josef und ihrer Flucht nach Ägypten– eine Kindheitserinnerung, denn Grey war seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen. Josef war ihm immer als komischer Vogel erschienen; er kümmerte sich um eine Frau, die ein Kind von jemand anderem bekam. Aber jetzt fing er an zu begreifen, wie jemand sich binden ließ, nur weil er sich erwünscht fühlte.
Und der springende Punkt war: Grey mochte Frauen. Immer schon. Das andere, das mit den Jungen, war eine andere Sache. Da ging es nicht um das, was er mochte oder nicht mochte, sondern um etwas, das er tun musste, wegen seiner Vergangenheit und der Dinge, die man mit ihm getan hatte. So hatte Wilder, der Gefängnispsychiater, es ihm erklärt. Das mit den Jungen war zwanghaft, hatte Wilder gesagt. Grey kehrte zu dem Augenblick zurück, als er selbst missbraucht worden war. Er inszenierte den Übergriff von Neuem und versuchte so, ihn zu verstehen. Wenn Grey die Jungen befummelte, tat er das ganz unwillkürlich; so, wie er sich kratzte, wenn etwas juckte. Vieles von dem, was Wilder sagte, war in Greys Ohren Bullshit gewesen, aber dieser Teil nicht, und er fühlte sich ein bisschen besser, weil er wusste, dass es nicht ganz allein seine Schuld war. Nicht, dass er damit aus dem Schneider gewesen wäre. Grey
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