Die zwoelf Gebote
anderen. „Geht schon mal voraus. Ich komme später. Und sorgt dafür, daß der Wächter erst ausgeschaltet ist, bevor ihr reingeht."
Edward war nicht so ganz klar, wovon da die Rede war. Der Große wandte sich wieder ihm zu. „Na los, komm." Zu Edwards Überraschung führte ihn der Mann in ein Postamt. „Arbeitet mein Vater denn bei der Post?" fragte Edward. Da lachte der Große. „Nein."
Er führte ihn zu einer Wand, an der Steckbriefe hingen. Dazwischen war auch einer von einem Mann und einer Frau. Und darunter stand ein Text.
Edward „Zweipistole" Bixby und Molly Bixby, gesucht in sieben Staaten wegen Mordes und in zehn Staaten wegen Raubüberfällen auf Postämter.
250000 Dollar Belohnung.
Edward stand wie angewurzelt vor dem Plakat.
„Das sind deine Mutter und dein Vater", sagte der Große. „Willst du sie jetzt immer noch sehen?" Edward schluckte nervös. „Aber natürlich."
„Na gut, meinetwegen, dann bringe ich dich jetzt zu ihrem Versteck." Das Versteck war eine Hütte in den Bergen.
Als der Große mit Edward ankam, machte ein Mann die Tür auf, dessen Foto Edward in dem Postamt gesehen hatte. Er hielt eine Pistole in der Hand.
„Wen zum Teufel schleppst du denn da an?" sagte er zu dem
Großen.
„Deinen Sohn, glaube ich."
„Meinen was?" Zweipistole starrte Edward verwundert an.
„Wie heißt du?"
„Edward."
„Wie alt bist du?"
„Achtzehn."
„Vor langer Zeit habe ich mal gesehen, daß die Bullen dich gefunden und in ein Waisenhaus gebracht haben. Stimmt das?" „Ja, ganz genau. Dieses Jahr bin ich dort ausgeschieden." „Da kriegst du doch die Tür nicht zu", sagte Zweipistole und klopfte Edward auf die Schulter. „Na, dann willkommen, Sohn. Komm rein."
Aus einem anderen Raum kam Molly. Sie war fett und häßlich,
und ihre Haare waren schmutzig und zerzaust. Und betrunken
war sie obendrein.
„Wer ist'n das?" wollte sie wissen.
„Unser Bankert", sagte Edwards Vater.
Das Wiedersehen war nicht unbedingt so, wie Edward es sich die ganze Zeit über vorgestellt hatte, aber immerhin hatte er seine wirklichen Eltern gefunden, und er wußte, ganz gleich, wer und wie sie waren, daß sie ihn damals ausgesetzt hatten, weil sie dazu gezwungen waren. Wahrscheinlich waren sie auf der Flucht vor der Polizei gewesen und in Gefahr und wollten nicht, daß ihrem Kind etwas passierte. Indem sie ihn verließen, brachten sie sicher ein großes Opfer. Also war Edward bereit, sie zu lieben und zu ehren, wie es die Bibel verlangte. „Ich kann mir denken, wie schwer es für euch gewesen sein muß", sagte er zu ihnen, „mich auszusetzen. Es muß ein großes Opfer für euch gewesen sein, mich aufzugeben und -" „Was war es?" platzte seine Mutter lachend heraus. „Ein Opfer? Dir geht's wohl nicht gut, was? Junge, ein Unfall warst du, sonst nichts. Ich wollte dich von Anfang an nicht haben. Und deshalb habe ich dich gleich nach der Geburt in die nächste Mülltonne abgeladen. Was willst du hier? Kommst
hier angetanzt und fällst uns auf den Wecker!"
„Wahrscheinlich will er Geld", sagte Zweipistole.
„Nein, nein", sagte Edward, „ich habe euch nur überall gesucht, weil ich meine Mutter und meinen Vater kennenlernen wollte."
„Na gut, jetzt hast du sie kennengelernt", sagte seine Mutter. „Und jetzt kannst du wieder abzischen. Und laß uns in Zukunft in Ruhe."
Zweipistole wandte sich an den Großen. „Schaff ihn weg." Edwards gesamte Welt brach zusammen. Jetzt hatte er endlich, endlich seine Eltern ausfindig gemacht und versuchte das vierte Gebot zu befolgen, und was hatte er davon? Gar nichts. Nun ja, nicht so ganz. Denn nachdem er die Hütte verlassen hatte, ging er zurück zu dem Postamt und sagte den Leuten, wo Zweipistole und Molly sich versteckt hielten. Und kassierte die Viertelmillion Belohnung dafür. Damit ging er nach Frankreich und führte dort fortan das schönste Leben.
5. KAPITEL
DAS FÜNFTE GEBOT: DU SOLLST NICHT TÖTEN.
Roger Jones war ein frommer Mann. Er war sogar sehr fromm. Er ging jeden Sonntag in die Kirche und befolgte alle Zwölf Gebote. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, jemals eines zu übertreten, ganz besonders nicht das sechste: Du sollst nicht töten.
Das heißt, er hätte niemals im Traum daran gedacht zu töten - bis er verheiratet war. Seine Frau Louise war sehr nett. Sie liebte Roger, und Roger liebte sie. Das Problem in seiner Ehe war nicht Louise. Sondern ihre Mutter.
Seine Schwiegermutter hieß Sarah, und sie war der allerunmöglichste
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