Diebe
hängt tief über dem Barrio, aber die Sonne brennt ihr gnadenlos in den Nacken. Es muss jetzt annähernd zehn Uhr sein, sie hat fünf Stunden Zeit, aber aus dem Barrio herauszukommen und die Stadt zu durchqueren, wird gefährlich sein, nirgends ist es sicher für sie. Und wenn sie es nicht rechtzeitig schafft, wird Demi im Gefängnis sterben, das ist sicher. Eduardos Versprechen ist nichts wert. Er wird sie und Demi nicht am Leben lassen wollen, sie wissen einfach zu viel. Und es wird allzu leicht sein: Einer von Eduardos Leuten, vielleicht dieser Fahrer, Domino, wird sich an dem Wachmann vorbeischleichen, und das war’s dann ...
Sie sieht das Telefon an, Miguels Telefon, das sie noch immer in der Hand hält. Sie kennt eine Person, die vielleicht helfen würde. Eine Frau mit Geld, eine Frau mit der Macht zu sagen: »Tu dies«, und dann wird es erledigt.
»Versuch es«, sagt sie sich. »Wenn du nicht fragst, kriegst du auch nix.« Sie zieht Señora Doluccas Karte aus ihrer Gesäßtasche.
Fast fieberhaft gibt sie die Nummer ein, die einzige Telefonnummer außer der von Fay, die Baz je angerufen hat. Dann steht sie steif da, das Handy fest an ihr Ohr gepresst.
Es klingelt und klingelt, und dann nimmt jemand ab, und eine Männerstimme meldet sich, eine junge Stimme, eine Stimme, wie sie mit sinkendem Mut feststellt, die sie wiedererkennt, aber es ist eine kalte Stimme, viel, viel kälter noch, als sie sie je gehört hat.
25
Seine Stimme dringt ihr durch und durch.
»Miguel, du kleines Stück Madenrotz, wieso rufst du diese Nummer an? Ich hab dir doch gesagt, du sollst niemals diese Nummer anrufen!«
Sie hält den Atem an.
»Miguel«, faucht er. »Bist du noch da? Hat’s dir plötzlich die Sprache verschlagen oder was ...«
Woher weiß er, dass dies Miguels Telefon ist? Sie hat doch das Haus angerufen, nicht ein anderes Handy. Diese reichen Leute, denkt sie, die haben alles, was für ihre Sicherheit nützlich ist.
Was kann sie tun? Das Handy ausschalten. Es auf die Erde schmeißen und drauftrampeln. Das jedenfalls würde sie gerne tun – seine Stimme in tausend kleine Stücke zerbrechen, als wäre er es, auf dem sie herumtrampelt. Aber sie tut es nicht, stattdessen bleibt sie gefasst und lässt es darauf ankommen. »Sie irren sich, Señor«, sagt sie mit neutraler, höflicher Stimme, den Tonfall imitierend, in dem nach ihrer Vorstellung diese kühlen, frostigen Frauen sprechen, die in den Juweliergeschäften bedienen. »Ich rufe aus dem Capricia an«, nennt sie den Namen des Geschäfts, vor dem Demi den Ring gestohlen hat. Das müsste die Señora stutzig machen und sie veranlassen, das Gespräch zu übernehmen. »Könnte ich bitte Señora Dolucca sprechen? Es ist wichtig.«
Stille. Dann: »Wer ist da?«
»Mein Name ist Maria Mangales. Ich arbeite im –«
»Ich hab’s gehört, im Capricia ...«
Baz kann eine Stimme im Hintergrund hören. Sie ist sich sicher, dass es die Frau des Captain ist. Dann wieder Eduardo, die Stimme gedämpft, als würde er die Hand über den Hörer halten. »Nicht für dich«, sagt er.
Warum ist er da? Warum hat er abgenommen? Eine halbe Minute später und die richtige Stimme wäre am Apparat gewesen. Plötzlich ist ihre Kehle zugeschnürt, und sie muss unwillkürlich blinzeln, weil ihr eines Auge tränt. Das hat sie sonst nicht, dieses starke Gefühl der Anspannung, nicht mal, wenn sie vor der Polizei flüchtet. Vor ihrem inneren Auge sieht sie, wie Demi aus seinem Zimmer geschafft und durch den Flur geschleift wird, der dicke Wachmann sitzt in seinem Büro, auf seinem kleinen Fernsehapparat läuft leise La Reglia . Sie holt tief Luft, zwingt sich zur Ruhe und wiederholt ihr Anliegen.
Eine Tür fällt zu und dann gibt es ein leichtes Seufzen des Wiedererkennens am anderen Ende der Leitung. »Jetzt weiß ich, wer da ist. Baz. Die Stille. Und du bist im Barrio. Wie ist es denn so im Barrio, Baz? Ein bisschen viel los vielleicht.« Seine Stimme trieft vor Spott. Sie antwortet nicht. »Man kommt gar nicht so gut los, um zur Arbeit zu gehen ...« Dann: »Oh nein. Es ist Demi, um den du dir Sorgen machst. Armer Demi. Liegt im Krankenhaus und du kannst nicht zu ihm. Es tut mir so leid. Weißt du, ich glaube, man wird ihn heute entlassen. Es geht ihm schon so viel besser.«
»Weiß Fay, was Sie tun?« Sie spuckt die Worte heraus. »All diese bösen Sachen?«
»Fay? Meine Mutter ...?« Er stößt ein kurzes, verächtliches Lachen aus. »Sie weiß das, was ich ihr
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