Diebe
Wiedersehen«, sagt sie und will gerade die Verbindung unterbrechen, da lässt sich Señora Dolucca wieder vernehmen, mit forscherer Stimme diesmal.
»Er hat das Haus verlassen, bevor ich dich angerufen habe. Ich wollte nicht, dass er es mitbekommt. Ich werde jetzt gehen. Ich werde tun, was ich kann.«
Die Worte scheinen sich mit einer Wärme über Baz zu ergießen, die ihren ganzen Körper ergreift, und für einen Moment vergisst sie fast zu atmen, vergisst fast, dieser Frau zu danken, die dies für sie tut, obwohl sie ihnen nicht das Geringste schuldig ist. »Danke«, sagt sie, aber die Leitung ist schon unterbrochen.
Ich werde jetzt gehen.
Ich werde tun, was ich kann.
»Hier. Nimm ein Stück davon. Ist schön süß.« Eine Frau in ländlicher Kleidung hat eine Scheibe aus einer Melone geschnitten und beugt sich über ihren Stand, um sie Baz, die gerade vorbeikommt, anzubieten. Die Frau sieht ein Kind, ob Junge oder Mädchen, kann sie im ersten Moment nicht erkennen. Das Kind sieht verschwitzt und mitgenommen aus, das Gesicht von Schmutz und Tränen verschmiert, und die Augen leuchten, als es die Melone entgegennimmt. Ein Mädchen, erkennt die Frau jetzt, und älter, als sie zunächst angenommen hat. Zurückhaltend, immer auf der Hut. Sie muss an streunende Hunde denken und schämt sich sofort dafür. Ein Kind ist kein Hund.
Baz schlägt ihre Zähne in das weiche grüne Fruchtfleisch. Seit gestern am frühen Abend hat sie nichts mehr gegessen. Der Saft läuft ihr übers Kinn. Sie leckt ihn ab und lächelt der Frau zu, und jetzt erkennt die Frau, dass sie hübsch ist, und sie begreift, warum das Mädchen seine Haare so kurz geschoren trägt und sich wie ein Junge kleidet, und warum es ständig auf der Hut zu sein scheint.
»Warum lebst du in der Stadt?«, fragt die Frau. »Du kommst doch aus’m Norden, eh? Geh nach Haus, zurück in dein Dorf. Kehr heim in dein Dorf und mach irgendeinen Jungen glücklich.«
Baz wischt sich den Mund ab und lächelt noch einmal. »Vielleicht«, sagt sie. Sie bedankt sich bei der Frau und schlüpft davon, überquert den Markt, und sobald sie die Hauptstraße erreicht, fängt sie an zu laufen, dann, als sie hinter sich die Straßenbahn kommen hört, verschärft sie das Tempo noch und sprintet bis zur Haltestelle, wo sie, gerade als die Bahn wieder anfährt, das hintere Geländer packt und sich auf die Plattform schwingt. Sie muss grinsen, denn das ist mit das Beste daran, in der Stadt zu leben: freie Fahrt zu haben, die warme Luft im Gesicht zu spüren, das Rennen zu gewinnen, nicht zu verlieren. Es ist ein gutes Omen.
26
Baz springt von der Straßenbahn und eilt hinüber auf die schattige Seite der Straße. Eine kleine Menschentraube hat sich vor einem Geschäft gebildet, in dessen Schaufenster lauter Fernsehapparate stehen. Im Vorbeigehen sieht sie Bilder des niedergewalzten Barrio. Eine Reporterin steht neben dem Brunnen, hinter dem eine Reihe von Polizeibussen zu sehen ist, und spricht ohne Ton in ihr Mikrofon. Die Kamera macht einen Schwenk auf die Skyline über dem Barrio: nichts als Rauch und Flammen. Dann ist ein Polizist im Bild, das Visier hochgeklappt, mit entspanntem Gesicht nickt er und sagt ein paar Worte.
Sie geht rasch die Straße entlang, vermeidet jeden Blickkontakt. Sie ärgert sich, dass sie sich nicht sauber gemacht hat, als sie auf dem Markt war. Niemand nimmt einen wahr, wenn man sauber ist.
Sie findet einen Trinkbrunnen und wäscht sich das Gesicht. Setzt dann einen Teil von Señora Doluccas Geld ein, um sich ein sauberes Shirt zu kaufen: weiß und schlicht, wie sie von Kindern getragen werden, die auf eine gute Schule gehen. Zurück auf der Straße, entsorgt sie das alte, schmutzige T-Shirt in einer Mülltonne und macht sich dann ohne weitere Umwege auf zum Krankenhaus.
Es ist drei Uhr nachmittags. Wenn Señora Dolucca da ist und ein bisschen mit dem Wachmann plaudert, dann, so rechnet Baz sich aus, dürfte es nicht allzu schwierig sein, Demi durch den Flur zur Hintertür zu schleusen, dann die Treppe hinunter und nach draußen. Reflexartig überzeugt sie sich davon, dass der Schlüssel noch in ihrer Tasche steckt. Alles, was sie brauchen, ist ein bisschen Glück und fünf Minuten Zeit. Fünf Minuten auf der Straße, das reicht, um zu verschwinden, selbst wenn Demi sich wegen seiner Wunde und dem verknacksten Bein nur langsam bewegen kann. Und falls Lucien das Motorrad findet und es zu ihnen bringt, gibt es nichts mehr, was sie aufhalten kann, auf
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