Diebe
der ganzen weiten Welt nicht. Diesen Ausdruck hat sie schon mal gehört. Mama Bali hat ihn irgendwann benutzt, und Baz glaubte damals, damit seien die Straßen außerhalb des Barrio gemeint. Das war, als sie noch klein war. Heute steht der Ausdruck für Freiheit, er steht für »fort von hier«, steht für ein neues Leben.
Der Wächter am Eingang ist derselbe, der auch Dienst hatte, als sie mit Señora Dolucca hier war. Der Mann gibt ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass er sie wiedererkennt, öffnet die Schranke, und sie geht zügig hindurch und betritt das Hauptgebäude, wo sie am Empfang ein Besucherschildchen erhält und anschließend zum Sicherheitsflügel geführt wird. Dort wird ihr gestattet, allein durch den öden grünen Flur zu gehen, an dessen Ende sich das Büro des dicken Wachmannes befindet. Offensichtlich ist heute nicht viel los, denn sie kann durchs Fenster sehen, dass er gerade seine Siesta hält. Der Kopf liegt flach auf dem Tisch, das Gesicht dem Besucher ab- und dem kleinen Fernseher zugewandt, der immer noch läuft. Sie klopft ans Fenster, aber er rührt sich nicht. Sie probiert das Tor, auch wenn sie nicht damit rechnet, dass es unverschlossen ist, doch zu ihrer Überraschung schwingt es auf, und sie schlüpft hindurch.
Wir spazieren jetzt einfach raus, denkt sie. Dass alles so leicht ist, das passiert nur einmal im Leben. Wenn du so eine Gelegenheit geboten kriegst, dann greifst du zu. Wärst schön blöd, wenn du’s nicht tätest.
Sie beschleunigt ihre Schritte, rennt jetzt fast, um nur schnell zu Demis Zimmer zu kommen. Die Tür ist geschlossen, und ganz kurz zögert sie, fragt sich, ob sie anklopfen sollte, ob er und Señora Dolucca sich vielleicht gerade unterhalten. Sie ist versucht, ein Ohr an die Tür zu legen, zu horchen, was sie sagen. Doch sie tut es nicht. Denn das ist etwas, was jemand wie Miguel tun würde, aber nicht sie, auch nicht Demi und nicht einmal der arme lärmende Raoul. Sie dreht den Knopf und drückt die Tür auf.
Die Vorhänge sind aufgezogen, helles Licht flutet durchs Fenster. Sie nimmt eine Stimme wahr, nimmt Demi wahr, der auf dem Bett sitzt, und neben ihm die Frau des Polizei-Captain. Es ist jedoch keiner von diesen beiden, der spricht. Die Stimme gehört zu einer Gestalt, die auf der anderen Seite des kleinen Zimmers sitzt, mit dem Rücken zum Fenster. Sie muss blinzeln, weil das Licht so hell ist, und für einen Moment kann sie gar nicht richtig sehen. Und dann trifft sie die Erkenntnis wie eine schallende Ohrfeige von Fay.
Eduardo!
Sie sollte weglaufen, aber sie kann es nicht. Es ist, als hätte eine dünne Klinge sie durchbohrt und würde sie genau an dieser Stelle zwischen der halb geöffneten Tür und dem Zimmer festnageln.
»Komm ruhig rein«, sagt Eduardo. »Wir haben dich erwartet, nicht wahr, Mutter? Komm rein und mach die Tür zu.«
Es herrscht eine schreckliche, geradezu gruselige Unbewegtheit im Zimmer, allein der Deckenventilator dreht sich langsam. Demis Gesicht verrät keine Regung – sein Blick zuckt zur Tür, wo Baz steht, und dann zurück zu der Gestalt im Sessel. Señora Dolucca sieht furchtbar aus, die Wangen eingesogen, der Mund so fest zugepresst, dass ihre hellen Lippen einen schmalen roten Strich bilden. Was Eduardo betrifft, so sitzt er vollkommen entspannt da, die elegant gekleideten Beine übereinandergeschlagen, das teure Hemd am Hals offen, ein Handy in der linken Hand, eine flache silberne Automatikpistole im Schoß. »Komm rein ... Baz.« Es hat den Anschein, als müsse er sich auf ihren Namen erst besinnen.
Sie macht einen Schritt nach vorn, worauf die Tür hinter ihr zufällt.
»Gut.« Er klappt sein Handy auf, drückt auf die Wähltaste. Er trägt dünne Lederhandschuhe, und Baz fragt sich, was das soll. Wer trägt bei dieser Hitze Handschuhe? »Komm rauf«, sagt er ins Telefon. »Wir sind bereit.« Er lauscht der Antwort am anderen Ende der Leitung. »Ja.« Dann klappt er das Handy wieder zu. »Nun denn«, sagt er, »ist das nicht schön, Mutter? Du hast gesagt, wie gern du das Mädchen und diesen Jungen magst, und nun sitzen wir hier alle zusammen, gemütlich und in Sicherheit.«
»Das kannst du nicht tun, Eduardo«, setzt Señora Dolucca zaghaft an. »Dein Vater –«
»Mein Vater! Mein Vater, der Captain«, sagt er und schnippt verächtlich mit seinen behandschuhten Fingern.
Señora Dolucca sinkt in sich zusammen, lässt den Kopf hängen. Sie vermeidet es, Baz anzusehen, die sie ungläubig anstarrt. Diese
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