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Diebe

Diebe

Titel: Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Gatti
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ihre Bohnen auf und wartet.

22
    Sie verweilt in dem Café, so lange es irgend geht, lässt sich eine kleine Tasse Kaffee servieren und schlürft die bittere schwarze Flüssigkeit langsam hinunter, bestellt dann auch noch ein Eis, aber als sie ihren Aufenthalt schließlich auf eine Stunde ausgedehnt hat, kommt der Betreiber und legt ihr die Rechnung auf den Tisch. Obwohl sie Geld hat, will er sie loswerden. »Kannst woanders auf deinen Onkel warten«, sagt er grob. »Ich brauch diesen Tisch für die Abendgäste.«
    Sie weiß, dass es keinen Sinn hat, sich zu beschweren. Ein Mann von diesem Kaliber könnte sie einfach von ihrem Stuhl stoßen, könnte sie sogar schlagen, ohne dass jemand etwas sagen würde, denn alle würden davon ausgehen, dass sie etwas Ungehöriges getan hat. Kinder ohne Eltern sind immer verdächtig. Schweigend holt sie etwas Geld hervor, zählt sorgfältig den genauen Betrag ab. Dann steht sie auf und entfernt sich. Sie geht auf dieser Seite der Straße bis zur nächsten Ecke, dann auf der anderen Seite, dort, wo der Krankenhauseingang ist, zurück bis zu dem Zeitschriftenkiosk.
    Der Verkäufer ist ein grauhaariger Mann mit der gleichen stumpf braunen Hauttönung, die auch Baz hat, und so schweigsam der Cafébetreiber war, so redselig ist dieser kleine, dünne Mann vom Land. Er erzählt ihr von seinem Heimatdorf und fragt sie nach ihrem. Sie erfindet etwas, das halbwegs glaubwürdig klingen mag – dass sie mit ihrer Mutter, die als Putzfrau in einem Büro arbeitet, und ihrem Onkel, der einen Job im Krankenhaus hat, zusammenlebt, wenn sie auch etwas unbestimmt bleiben muss, als er wissen möchte, was genau ihr Onkel denn dort mache. »Ich kenne viele von denen, die hier arbeiten«, sagt er, beinahe stolz. »Bin seit zehn Jahren an diesem Standort, seh sie jeden Tag kommen und gehn. Seh auch ’n paar von den Gefangenen kommen und gehn. Es gibt einen Gefängnisflügel da drin, weißt du bestimmt ...« Es scheint ihn nicht mal zu stören, dass sie nicht viel redet, es ist die Gesellschaft, um die es ihm geht, und sie macht sich sogar nützlich, besorgt ihm einen Kaffee im Pappbecher, schnürt das Bündel der Nachmittagszeitungen auf und legt sie auf dem Stand aus. Sie erzählt ihm, dass sie auf ihren Onkel wartet, den sie vom Dienst abholen will, und er lässt sie auf einem Hocker im Schatten des Kiosks sitzen.
    Drei Stunden später macht der Zeitungsverkäufer Feierabend, schließt seinen Kiosk und wünscht Baz alles Gute. »Ein Jahr noch«, teilt er ihr mit, »dann geh ich zurück nach Hause. Hier –« Er zieht ein Stück Papier aus seiner Hemdtasche, einen Zehncentschein für die Providente, die nationale Lotterie. »Meine Investition. Einmal die Woche – vielleicht kehr ich als reicher Mann zurück. Komm ruhig mal wieder und besuch mich, dann kauf ich dir auch ein Los.« Er klemmt sich die Tageszeitung unter den Arm und marschiert los, Richtung Stadtrand, wo er, wie er Baz erzählt hat, ein Zimmer bewohnt.
    Baz geht wieder auf die andere Straßenseite und bezieht Stellung an der Einmündung einer Gasse. Um sieben Uhr ist von der Sonne nicht mehr viel zu sehen und die Straßenbeleuchtung geht an. Zwei Stunden später entsteht plötzlich Bewegung am Krankenhauseingang, eine kleine Gruppe von Militärbediensteten verlässt das Gebäude, ihr folgen einige Krankenschwestern und schließlich, ganz für sich, ihre Zielperson, der dicke Wachmann. Sie streckt sich und tritt auf die fast leere Straße. Im Abstand von zwanzig Schritten folgt sie ihm, bewegt sich dabei immer möglichst weit am Rand. Sie ist vorsichtig, weil sie immer vorsichtig ist, aber er blickt sich kein einziges Mal um. Warum sollte er auch? Er hat, ebenso wie ihr Freund, der Zeitungsmann, sein Tagwerk getan und kennt nur noch einen Gedanken: nach Hause.
    Als er nach links Richtung Centro abbiegt, windet sie sich durch den Verkehr und schließt näher auf. Hier sind mehr Menschen unterwegs, besuchen oder verlassen die Gaststätten und Bars oder warten an den Straßenbahnhaltestellen. Sie wählt den passenden Augenblick, um an ihm vorbeizustreichen, gerade als er sich durch eine Gruppe von lärmenden Büroangestellten schlängeln muss, fühlt den harten Umriss des Torschlüssels, und schon will sie ihm in die Tasche greifen, da spürt sie, dass eine der Bürofrauen sie bemerkt hat. Ein einzelnes Kind auf einer belebten Straße, das ist hier gleichbedeutend mit Dieb. Baz senkt den Kopf, vermeidet jeden Blickkontakt mit der Frau und

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