Diebeswelt Sonderband: Der dunkle Held
Katze stand vor der Eingangspforte und
wartete darauf, hinausgelassen zu werden. Als sie einen leisen Laut
von sich gab, schoß Wunder zwischen ihnen hindurch und eilte zu
ihr.
Hanse legte Mignureal eine Hand auf die Schulter und fragte:
»Was wolltest du sagen?«
»Nichts, glaube ich.« Sie seufzte. »Es wird
passieren, das weiß ich. Du wirst es tun. Nur daß
Mitternacht mittlerweile längst vorüber ist und es nicht
mehr lange dauern wird, bis es dämmert, Liebling. Diese Sache
muß noch warten. Wir müssen uns ausruhen.«
»Das ist wahr«, stimmte Hanse zu. »Morgen nacht
also. Hmm… ich meine, heute nacht, aber viel
später!«
Zwei Leute kamen über die Hauptstraße von
Stadthügel durch die Finsternis geritten und unterhielten sich,
und sie bemerkten das große graue Pferd unter dem Hain aus
Vogelbeerbäumen links von ihnen nicht. Der schwarzgekleidete
Mann auf dem Baum interessierte sich weder für die Beeren, noch
für die beiden Reiter, die zu dieser ungewöhnlich
späten Stunde aus Firaqa heimkehrten. Er beobachtete, wie sie
vorbeiritten, und sie merkten es nicht. Er hatte keine Ahnung, wer
sie waren; sie hatten keine Ahnung, daß er da war.
Würde man das kleine Wäldchen fällen, hätte
man die Straße halbkreisförmig erweitern können.
Direkt hinter den Vogelbeerbäumen fiel das Gelände steil
ab, deshalb war das Grundstück hier auch nicht bebaut worden,
und das würde wohl auch nie geschehen. Wahrscheinlich hatte es
einen Besitzer, aber das kümmerte Nachtschatten nicht. Der
Besitzer würde auf keinen Fall Corstic heißen. Von hier
bis zu der Stelle, an der sein ummauertes Grundstück am
weitesten hügelabwärts reichte, war es eine halbe Meile die
Straße hinauf, und das Anwesen lag auf der anderen
Straßenseite.
Nachtschatten wartete. Er wartete bereits ziemlich lange. Was ihm
am meisten zu schaffen machte, waren nicht Unruhe oder Besorgnis,
sondern das Jucken an der Innenseite seines Schenkels. Er durfte sich
dort nicht kratzen, denn das Jucken ging von der Wunde aus, die
Wunders Krallen gerissen hatten. Hanses enge Hose hatte das seltsame
grüne Zeug, das Mignureal ihm auf die Wunde geschmiert hatte,
wahrscheinlich schon wieder weggewischt.
Direkt unter ihm rupfte das graue Tejanapferd Gras und knabberte
gelegentlich an ein paar tief herabhängenden Blättern.
Zusammen mit seinem Herrn wartete das Pferd hier seit mehr als einer
Stunde. Nachtschatten harrte in der Dunkelheit auf dem Baum aus. Und
er dachte nach.
Wie kam es, daß er an den Bäumen innerhalb von Corstics
Mauern keine hellen, frischen Wunden gesehen hatte, dort, wo sich die
Äste losgerissen und sich ihm entgegengeschleudert hatten, um
ihn aufzuspießen, wie es mit Thuvarandis geschehen war? Warum
hatte er, selbst nachdem er vom Pferd gestiegen war und genau
nachgesehen hatte, keine Zweige oder Blätter entdecken
können? Es hätten welche da sein müssen, denn er hatte
die Äste auf den Boden und auf die Straße prallen
hören. Aber er hatte nichts im Straßengraben oder auf dem
Wall vor ihm finden können. Warum, im Namen aller Götter
– die Flamme nicht zu vergessen –, hatte sich Corstic die
Mühe gemacht, das Gelände säubern zu lassen?
Angenommen, er hatte es getan, wie hatte er die Äste wieder an
den Bäumen befestigt? Konnte irgendein Magier einen solchen
Zauber bewirken, der die Bäume wieder zusammensetzte, indem er ihre Äste wieder anwachsen ließ?
Hanse schüttelte den Kopf, nachdem er eine weitere Stunde
gewartet hatte. Wieder ging ihm der Gedanke durch den Kopf: Was
für einen Zauberleim hat er benutzt, verdammt noch mal? Ihm
fiel keine Antwort darauf ein. Er hatte länger als eine Stunde
hier gesessen, ohne eine Antwort darauf finden zu können.
Genausowenig konnte er sich vorstellen, daß selbst der
Meistermagier von Firaqa solche Wunder vollbringen könnte.
Er wartete fast noch eine Stunde länger. Mittlerweile stand
sein Pferd bewegungslos und still direkt unter seinem Sitzplatz; das
namenlose Tier war eingeschlafen.
So leise wie Nachtschatten, wahrscheinlich sogar noch leiser,
kamen die Katzen zurück, ohne daß er sie bemerkte, bis sie
sich fast direkt unter ihm befanden. Von seinem Ast aus war Wunder in
der Dunkelheit nicht zu sehen, Regenbogen war ein kleiner heller
Fleck. Sie stieß mit ihrem leisen Stimmchen ein völlig
normales »Miau« aus, und Nachtschatten schwang sich von dem
tiefhängenden Ast zu Boden. Das Pferd, das augenblicklich wach
war, warf den Kopf herum.
Nachdem Hanse sich
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