Diebeswelt Sonderband: Der dunkle Held
werde einen Versuch unternehmen!
Er lenkte das Pferd dicht an die Mauer, flüsterte den Katzen
ein paar Worte zu, holte tief Luft, spannte seinen Körper und
streckte eine Hand aus, über die er einen schwarzen Handschuh
gestreift hatte. Er ergriff einen langen Ast.
Augenblicklich vernahm er ein lautes krachendes Geräusch und
ließ sich so weit nach hinten fallen, wie es der Sattel und
sein Rückgrat zuließen. Der abgebrochene Ast schoß
über seinen Oberkörper hinweg. Blätter peitschten ihm
ins Gesicht, und dünne Zweige kratzten über seine Brust.
Wenn er sich nicht aus dem Weg gebeugt hätte, wäre er
aufgespießt worden. Er hörte, wie der Ast mit rauschendem
Laub auf die Straße klatschte. Er betrachtete ihn, ein
großer Ast, der halb über die Straße ragte. Und
wieder hörte er Blätter rauschen und erneut ein lautes
Krachen.
In diesem Augenblick vernahm er im Geist wieder die Worte, die
Mignureal in der letzten Nacht gesprochen hatte:
»Hanse. Trage dieses Amulett. Wenn die Äste anfangen
zu zerbrechen und zu fliegen, dann umklammere das Amulett und
schließe die Augen, bis du sie nicht mehr
hörst.«
Hanse hatte nur noch wie ein Schwachsinniger stammeln können:
»Die Augen schließen? Aber… Amulett? Aber…«
Wahnsinn! hatte er gedacht. War das etwa alles, was sie ihm
zu bieten hatte? Er sollte das dreieckige Schmuckstück aus den
vielfarbigen Schildkrötenpanzersegmenten mit dem goldenen Rand
umklammern und die Augen dabei schließen, damit er sicher sein
konnte, getötet zu werden? Er hatte nur stottern und Mignureal
anstarren können, als sei sie übergeschnappt. Ihm fehlten
die Worte. Angesichts dieses Schwachsinnes hatte sein Verstand sich
verabschieden wollen. Diesmal mußte ihre S’danzogabe ihr
mit Sicherheit einen Streich gespielt haben.
Nun dachte er ganz anders darüber. Wenn sie gewußt
hatte, daß die Äste brechen und fliegen würden,
dann…
Es war alles andere als einfach, aber Nachtschatten sog die Luft
tief in sich hinein und riß sich zusammen. Den Blick immer noch
auf den Ast auf der Straße gerichtet, schloß er die
Augen. Gleichzeitig umklammerte er mit der Hand das Medaillon, das um
seinen Hals hing und vor seiner Brust baumelte.
Wie lange soll ich die Augen geschlossen halten? fragte er
sich, und dann wurde ihm bewußt, daß er außer dem
Zirpen von ein paar Grillen und Laubheuschrecken nichts hörte.
Keine krachenden Geräusche. Kein Zischen und Sausen in der
Luft.
Er öffnete die Augen wieder. Den Kopf hatte er nicht bewegt.
Er blickte immer noch auf die Straße. Und das war alles, was es
dort zu sehen gab. Dort lag kein Ast. Als er den Kopf herumriß
und auf den Baum starrte, war der Ast, den er berührt hatte, der
abgebrochen und auf ihn zugeflogen war, immer noch da. Oder wieder
da, genau dort, wo er sein sollte und wie es sich für ihn
gehörte: am Baum angewachsen.
Verdammnis, Hölle und bei den Augen von Allvater Ils! Es
war eine Illusion! Mignureal hatte wieder recht
gehabt!
Und deshalb hatte sie sich wahrscheinlich auch mit dem Rest ihrer
Warnungen und Anweisungen nicht getäuscht, die sie während
ihrer Trance ausgesprochen hatte. Und jetzt kannte Hanse auch den
Grund. Weil alles eine Illusion ist! Auch eine Illusion kann mich
töten… aber wenn ich sie nicht sehen kann, existiert sie
gar nicht! Ich muß das Grundstück stürmen – und
in das Haus spazieren!
Ein Triumphgefühl stieg in ihm auf und ließ ihn
erzittern. »Haltet euch fest, Freunde«, rief er den Katzen
zu, »denn jetzt geht’s los! Haiya!«
Das Klopfen an der Tür war eine unangenehme Überraschung
für Mignureal, denn Hanse konnte in der Zwischenzeit seine
selbstgestellte Aufgabe noch nicht erledigt haben. Deshalb machte sie
sich in diesem Augenblick mehr Sorgen um ihn, als daß sie Angst
um sich selbst gehabt hätte. Sie eilte zur Tür,
öffnete sie und blickte den Mann im Flur fragend an. Seine
großen Augen waren tiefblau und direkt auf sie gerichtet, und
fast schien es, als könnten sie in Mignureal hineinsehen.
Er war von mittlerer Größe, ungefähr
fünfunddreißig Jahre alt, vielleicht etwas älter, und
um eine goldrote Haarlocke in der Mitte seiner Stirn herum gingen ihm
langsam die Haare aus, so daß seine Stirn sehr hoch wirkte.
Sein Schnurrbart war etwas heller als sein Haupthaar, ein an den
Seiten herabhängender und sorgfältig gestutzter Bart. Der
Mann war schlank und feinknochig aber nicht dünn, als sei er
früher einmal dünn gewesen, würde aber gut essen
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