Diebin der Nacht
dass es nicht Argwohn ist, was sein Interesse hervorgerufen haben könnte?«
Baylis, Evan und Rose tauschten heimlich Blicke aus und stimmten dann alle drei in Rillieux’ verschmitztes Grinsen mit ein.
»Mystere glaubt, dass diese Leinenwickel da sie zu einem kleinen Rotbäckchen machen«, sagte Baylis.
»Das tun sie ja auch«, beteuerte Rillieux. »Aber genau das ist doch mein Punkt. Manche Männer wollen gar nicht darauf warten, bis ein Mädchen zur Frau wird - sie begehren das Mädchen und ihre Unschuld. Es erregt sie, lässt in ihnen den Wunsch aufkommen-«
»Ich habe schon verstanden«, unterbrach sie ihn plötzlich mitten im Satz, nachdem seine Worte sie hatten erröten lassen. »Ich versichere dir jedoch, dass keine seiner Bemerkungen auf diese Art von Dingen schließen lässt.«
»Auf welche Art von Dingen?«, neckte Evan sie, woraufhin alle lachten.
»Worte«, informierte Rillieux sie, »wurden uns gegeben, um unsere wahren Gedanken zu verbergen. Belloch versucht nicht, dich verhaften zu lassen; er ist daran interessiert, dich zu verführen. Vielleicht könnten wir ihn sogar dazu nötigen, dich zu heiraten. Das dürfte sich als eine ziemlich gewinnbringende Vereinigung erweisen.«
»Vor allem«, mischte Evan sich ein, »wenn der Bräutigam auf tragische Weise ums Leben kommt und dir alles hinterlässt, was er besitzt.«
Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte und Hitze in ihre Wangen stieg. Ihre Worte richtete sie an Rillieux. »Heute Morgen noch hattest du Hush erklärt, dass Diebstahl niemals Gewalt oder Blutvergießen mit sich bringen dürfe. Verrätst du nun dein Glaubensbekenntnis?«
Er schaute Evan finster an. »Natürlich nicht. Dieses hohle Geschwafel ist mal wieder typisch Evans. Und nun rühr dich, Baylis, und spann die Pferde an. Wir müssen uns beeilen.«
Die einstigen Sandsteinhäuser der Mittelklasse auf der Fifth Avenue waren inzwischen der Palastmeile Manhattans gewichen, die sich kilometerweit nach Norden hin erstreckte. Nichts auf der Welt konnte sich in Bezug auf Protzerei mit ihr messen, allem voran das Vanderbilt- Chateau auf der Ecke Fifth Avenue und 52. Straße, gebaut aus importiertem Marmor zum atemberaubenden Preis von drei Millionen Dollar.
Das Herrenhaus der Vemons befand sich am unteren Ende der Avenue. Obwohl nicht so aufwändig gebaut wie einige andere von ihnen, bestand es doch aus einer stattlichen, im Stile einer mittelalterlichen Kathedrale gebauten Granitkonstruktion - der ideale Schauplatz, sagte Rafe Belloch sich, um ein wenig gute Dichtung zu genießen, vorausgesetzt natürlich, dass es diese heute geben würde.
Sein Gefühl der Vorfreude wurde noch gesteigert, als er in die riesige Bibliothek auf der zweiten Etage mit ihren prachtvollen, gewölbten Decken geführt wurde: Bücherschränke aus Mahagoni gefüllt mit ledergebundenen Bänden, Gemälde in goldenen, verschnörkelten Rahmen - Meisterwerke im Privatbesitz, die gelegentlich die Wände des Louvre oder der Saint Sophia Cathedral schmückten, denn die Vemons waren Sammler europäischer Malerei.
Der Tee wurde in erlesenem, seltenem russischen Porzellan serviert. Für diejenigen, die etwas Stärkeres als Tee bevorzugten, standen dicht gedrängt Wein- und Spirituosenflaschen auf einer geschnitzten Mahagonianrichte, an der ein gediegener Schankkellner mit adretter Pomadenfrisurbediente. Kaum angekommen, hatte Rafe auch schon einen Scotch mit Soda bestellt. Nun stand er wie üblich auf solchen Versammlungen allein abseits und beobachtete die Menschenmenge, während er vorgab, sich mit einem riesigen Stehglobus auf einem Sockel aus Nussbaumholz zu befassen.
Wie es der Brauch war, herrschte Caroline Astor mit matriarchalischer Zurückhaltung über allem. Sie teilte sich mit ihrer Tochter Carrie ein mit weißem Brokat bezogenes Sofa im Eingangsbereich des Raumes. Das Sofa hätte ebenso gut ein Thron sein können, denn jeder Ankömmling - Rafe eingeschlossen - brachte zunächst Mrs. Astor und Carrie seine Huldigung dar, bevor er die Gastgeber begrüßte.
Er hatte Carrie kennen gelernt, als diese das letzte Mal aus ihrer Schule nach Hause gekommen war. Es war lästig, sich mit dem Mädchen zu unterhalten, da sie von einem Gedanken zum nächsten stolperte. Und wenn sie auch nicht gerade unattraktiv war, so hatte sie doch einen seltsam schiefen Mund, der ihn irritierte.
Als er diese beiden Frauen dort zusammen sitzen sah, musste er innerlich grinsen über die Ironie eines Lebens inmitten der
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