Diebin der Nacht
eine Mitgliedschaft bei den »oberen Vierhundert sowohl Verpflichtungen als auch Privilegien mit sich bringt. Eine dieser Verpflichtungen ist es nun mal, ein ausgesprochen geselliger Mensch zu sein.«
Da war er wieder, ärgerte sie sich - dieser »freundliche Würgegriff«, wie sie Rillieux’ Macht über sie nannte. Er hatte ihr so viel gegeben, verlangte jedoch eine Menge dafür. Trotzdem stellte er selten Forderungen, denn er konnte sie leicht durch Freundlichkeit zu etwas zwingen. Und wenn es mit Freundlichkeit nicht klappte, dann gab es da immer noch den »anderen« Rillieux, der sie bearbeiten konnte. Dieser Mann war kein Gentleman der »oberen
Vierhundert«. Paul Rillieux’ dunkle Seite stand im Einklang mit dem Lügner und Betrüger, der er ja in Wirklichkeit war. Tief in seinem Innern hatte er einen harten, unbarmherzigen Geist, der sich nur selten blicken ließ, da er glaubte, dass man mit Honig mehr Fliegen fing. Diesen Mann hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, und zwar, als sie sich geweigert hatte, einer Matrone, von der man munkelte, dass sie sich kurz vor dem Bankrott befände, eine Brosche wegzunehmen. Noch vor dem Ball war Rillieux in ihr Schlafzimmer gekommen und hatte sie mit seinem Spazierstock aus Silber und Elfenbein geschlagen. Und er hatte selbst dann noch weitergemacht, als der Stock unter der Kraft seiner Schläge zerbrochen war - sein Gesicht starr vor heftiger, leidenschaftlicher Verachtung.
Auf dem Ball war sie kaum in der Lage gewesen sich zu bewegen, geschweige denn mit ihren Kavalieren zu tanzen. Er war vorsichtig genug gewesen, ihr Gesicht auszulassen, sodass die Prellungen gut bedeckt waren. Trotz ihrer Verärgerung und ihres Schmerzes besorgte sie ihm die Brosche. Die Erinnerung an diese Episode hatte sich jedoch wie ein Brandmal in ihrem Gedächtnis festgesetzt.
Sie und die anderen ließen Rillieux lieber mit seinem freundlichen Würgegriff herrschen, denn der andere Würgegriff war sehr viel schlimmer.
»Ich werde zu der Dichterlesung gehen, wenn du es wünschst«, sagte sie, nachdem sie sich ohne Widerstand damit abgefunden hatte. »Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich in der Lage sein werde, irgendetwas zu entwenden.«
Rillieux nickte. »Vor allem will ich, dass wir beide uns bei diesem Besuch mit den Örtlichkeiten dort vertraut machen. Glaube mir, man wird uns ein weiteres Mal einladen. Sollte sich trotzdem eine günstige Gelegenheit ergeben, dann ergreife sie selbstverständlich. Du wirst aber wahrscheinlich viel zu beschäftigt damit sein, Carrie Astor bei Laune zu halten.«
Mystere stöhnte. »Willst du damit sagen, dass sie aus ihrem Internat in England zurück ist?«
»Ja, und sie wird heute Nachmittag mit ihrer Mutter dort sein. Caroline will, dass du nett zu ihr bist. Das Mädchen ist sehr zurückhaltend, aber du hast es ihr offensichtlich angetan, Mystere.«
»Sie ist wirklich von Mystere eingenommen«, schaltete Rose sich ein, die die beiden Frauen zusammen gesehen hatte. »Aber sie ist nicht zurückhaltend, Paul - sie ist ein völliger Schwachkopf.«
Der alte Rillieux schnaubte. »Natürlich ist sie das, aber sie ist außerdem eine Astor. Jeder Makel wird zu einem Schönheitsfleck, wenn er sich im Gesicht der Reichen befindet. Nichts jedoch hat unseren Erfolg bei Caroline so sehr gesichert wie die Zuneigung ihrer Tochter zu Mystere.«
In dieser Hinsicht hat er Recht, dachte Mystere. Einen Beweis für Mrs. Astors Begünstigung konnte man in ihren aufrichtigen Worten entdecken. Sie nahm niemals einen schneidenden Tonfall an, wenn sie sich an sie oder an den alten Rillieux wandte. Normalerweise machte Caroline nur zweifelhafte Komplimente, und sie schaffte es immer, beleidigend zu sein, selbst wenn sie jemandem schmeichelte. »Nun, das ist aber ein prächtiges Kleid«, mochte sie zum Beispiel irgendeiner Witwe die Ehre geben, wobei ihr Tonfall jedoch implizierte, dass es höchste Zeit sei, sich endlich wieder schicker zu kleiden.
»Ich werde nett zu Carrie sein«, versprach Mystere. »Sie ist zwar langweilig, aber wenigstens nicht so ein entsetzlicher Snob. Rafael Belloch könnte jedoch ebenfalls dort auftauchen. Er ist bekannt dafür, Dichtung zu schätzen. Und wenn er da ist, wird er ein wachsames Auge auf mich werfen. Ich bleibe dabei, dass er Ärger bedeutet, Paul.«
Rillieux’ gewieftes, verschlagenes Gesicht entspannte sich zu einem verschmitzten Grinsen. »Oh, er beobachtet dich, nun gut. Aber ist dir schon jemals der Gedanke gekommen,
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