Diebin der Nacht
Brahmanen. Jeder wusste, dass Caroline ihn vom ersten Moment an, als er mit seinem Vermögen nach
New York zurückgekehrt war, unter ihre Fittiche genommen hatte. Und trotz seiner dunklen Vorgeschichte, die jeder Einzelne der »oberen Vierhundert« kannte, war es ausgerechnet Caroline, die darauf achtete, dass er zu jedem gesellschaftlichen Anlass eingeladen wurde.
Sie konnte ihn ziemlich gut leiden - zu gut, munkelten einige. Die Matrone der halbamerikanischen New Yorker Gesellschaft würde sich nicht leichtfertig einen Liebhaber nehmen, das wusste er. Sollte dies jedoch jemals der Fall sein, so würde er sein ganzes Vermögen darauf wetten, dass sie sich um ihn, Rafe Beiloch, bemühen würde. Und er wartete ungeduldig auf den Tag, an dem Mrs. Astor ihrem Herzen nachgab. Eines Tages würde sie ihre Reserviertheit ihm gegenüber aufgeben, und das würde dann ihren eigenen gesellschaftlichen Ruin bewirken. Zum Teufel mit ihr, dachte er, zum Teufel mit ih rund mit ihrer ganzen Sippe.
Er fühlte Zorn in seinem Inneren auf steigen. Die hier Versammelten hatten keine Ahnung davon, welch erbitterten Groll er gegen sie hegte. Seine untadelige Familienabstammung und sein enormes Eisenbahnvermögen qualifizierten ihn als Patriarchen. Für ihn waren ihre gesellschaftlichen Ziele jedoch lediglich ein oberflächliches, jämmerliches Spiel. Zwanzig Jahre zuvor hatten seine Eltern sich in der Schlinge der Gesellschaft befunden, die sich einzig und allein durch die Herrschaft von Caroline Astor mitsamt ihrem Gefolge zusammengezogen hatte. Der Familienhintergrund der Bellochs war unantastbar und ihr Vermögen - als es noch bestanden hatte - alt und immens gewesen.
Dann jedoch verlor sein Vater in einem tragischen Moment falscher geschäftlicher Entscheidungen und einer unglücklichen Wahl des Zeitpunktes praktisch alles durch riskante Investitionen in ausländische Wertpapiere. Zwei
Tage danach, an Rafes vierzehntem Geburtstag, schloss er sich in sein Arbeitszimmer ein und erschoss sich. Seine Mutter starb nur wenige Jahre später vor seinen Augen als eine einsame, gebrochene Frau, deren Freunde aus den »besseren Kreisen« sich von ihr losgesagt hatten.
Das Leid und die Verzweiflung, denen er während seiner Fahrten durch Five Points begegnete, waren nicht so weit entfernt von dem Leben, das er einst kennen gelernt hatte. Und wenn es nach ihm ginge, so würde die Angesehenste unter ihnen - Mrs. Astor selbst - eine kleine Kostprobe davon nehmen müssen.
Lediglich aus Rache hatte er eingewilligt, den Patriarchen zu spielen. Sie hatten das Ende seiner Familie herbeigeführt, und er schwor bei allen Dingen, die ihm heilig waren, das er dafür großen Schaden anrichten würde. Er würde ihre unantastbare Hierarchie zerstören; er würde ihre Debütantinnen entehren und ihre Königin hinauswerfen. Die Fassade würde durch einen hässlichen, öffentlichen Skandal bröckeln - und dann langsam ganz zerstört werden. Er verachtete die selbst ernannte Elite mit ihrem beißenden Witz und ihrer snobistischen Tratscherei.
Entspann dich, alter Junge, warnte er sich selbst, denn er spürte, wie Wut und Alkohol ihn leichtsinnig werden ließen.
Erneut suchte er den Raum ab und katalogisierte die altbekannten Gesichter seiner Feinde.
Da war dieser aufgeblasene, arrogante Dummkopf Abbot Pollard, ein schickes Seidentuch in sein Hemd gesteckt, was ihn wie einen alternden, krummbeinigen Dandy aus- sehen ließ. Antonia Butlers reizende, hellbraune Augen blickten ihn gelegentlich verstohlen über ihrem Palmetto- Fächer an und ließen ihn wissen, dass ein Annäherungsversuch willkommen sein würde. Er lächelte direkt zurück und freute sich schon auf die Unannehmlichkeiten, die er für sie geplant hatte.
Andere Frauen, andere Spiele.
Diejenige, mit der er momentan sein Spiel trieb, hatte eisblaue Augen. Lady Moonlight tat sich schneller gütlich an den Dummköpfen, als selbst er es konnte, und eine widerwillige Bewunderung begann sich in seinem Inneren für sie zu entwickeln. Er hatte keinen echten Beweis dafür, dass Mystere Rillieux die berüchtigte Juwelendiebin war, nicht einmal dafür, dass sie die junge Räuberin gewesen war, die ihm in der Gasse nahe der Baxter Street befohlen hatte, sich zu entkleiden.
Wenn jedoch die Augen die Fenster der Seele waren, so hatte er in diese Seele schon früher einmal geschaut.
Mystere Rillieux’ Augen waren die gleichen Augen, die ihn seit zwei Jahren verfolgten. Wie viele Ausflüge er und Wilson
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