Diebin der Nacht
sie fest, dass Caroline sich ihrer kleinen Gruppe nicht nur angeschlossen hatte, um mit Rafe zu flirten. Mystere beobachtete, wie sie sich Abbot Pollard zuwandte und einen stählernen Blick aufsetzte, der einem Husaren hätte Angst einjagen können.
»Und Sie, Sir«, stieß sie kalt und ohne auch nur die geringste Spur von Humor in ihrer Stimme aus, »haben mit mir verspielt.«
Das war kein Scherz, sondern eine nüchterne Exkommunikationserklärung, und Pollard wusste das. Von Natur aus schon blass, wurde er nun so alabasterfarben, dass er aussah wie chemisch konserviert. »Meine Liebe, weswegen denn nur?«
»Wegen so abscheulicher Verbrechen, Abbot, dass Ihre gewohnten Schmeicheleien und Ihr gerissener Verstand Ihnen diesmal nicht helfen werden. Ich werde jetzt nicht alles wieder ausgraben. Es sollte genügen zu erwähnen, dass Sie kürzlich ein paar unverschämte Bemerkungen gemacht haben, und zwar über mich und über einige von denen, die ich zufällig bewundere.«
»Warum? Wenn Sie diesen Dichter meinen, diesen Oakes, wir alle lehnen von Zeit zu Zeit jemanden ab, es ist-«
»Unterbrechen Sie mich nicht, Sir«, stieß sie aus, und Mystere sah eine wilde, tyrannische Kraft in Mrs. Astors Augen, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Pollard war vollends eingeschüchtert.
»Ihre Schlagfertigkeit«, fügte sie hinzu, »ist berühmt und viel bewundert. Wenn Sie jedoch ständig mich zum Gegenstand hat, so verfehlt sie ihr Ziel.«
Pollard öffnete den Mund, um sich zu verteidigen. Caroline jedoch drehte sich um und ging zu ihrer Gruppe zurück, während sie ihn die anderen dumm anstarrend zurückließ.
Nachdem sie gegangen war, reagierte Abbot, wie man es von ihm erwartete, indem er sich weigerte, sich dem vernichtenden Verweis zu beugen. Vor einem Publikum, das ihn erwartungsvoll anschaute, sagte er mit schriller Stimme und gehässigem Genuss: »Wenn es Primitivität ist, was ihr Leute verabscheut, warum betet ihr dann nicht dafür, dass endlich jemand mit Format die Macht in der Stadtverwaltung übernimmt ? Wird irgendjemand hier sich widersetzen und die geschmacklose Monstrosität verhindern, die sie auf Bedloe’s Island errichten wollen? Ich flehe Sie an. Es ist schon schlimm genug, dass der Pöbel in Frankreich uns sein populistisches Dogma aufdrängen will. Warum um alles in der Welt sollten wir dabei auch noch helfen, indem wir dafür bezahlen? Achten Sie auf meine Worte - diese scheußliche Statue wird für die zukünftigen Generationen eine Witzfigur sein. Sie werden einen besseren Geschmack beweisen und ihren Abriss fordern.«
»Wie gewöhnlich, Abbot«, tat Rafe ihn geistesabwesend ab, während seine Augen Mystere beobachteten, »plappern Sie wieder aufgeblasenen Unsinn. Mein Gott, meine Herren, ist irgendjemand gestorben?«
Diese letzte Bemerkung war laut gegen das Orchester gerichtet. Zu Anfang, kurz nachdem Mystere angekommen war, hatten sie durch die mitreißenden Klänge des Triumphmarsches aus Verdis Aida das Blut eines jeden in Wallung gebracht. Irgendwann jedoch hatte Abbot sich den Dirigenten vorgenommen und nun füllte ein düsterer, schwerfälliger Satz, den Mystere weder erkannte noch mochte, die Nacht mit einem nicht enden wollenden Stöhnen, das an ein Begräbnis erinnerte.
»Es ist kein Lied der Eisenbahnarbeiter«, stichelte Pollard, »also können Sie es auch nicht erkennen, Rafe. Es ist aus dem Ring der Nibelungen von Wagner. Ich hielt es am heutigen Abend für angebracht, da der Meister erst kürzlich von uns gegangen ist.«
»Von mir aus hätte er seinen ganzen infernalischen Lärm mit sich nehmen können«, murmelte Rafe und schlenderte entschlossen zum Podium des Dirigenten hinüber. Mystere sah, wie er dem Dirigenten ein paar zusammengefaltete Banknoten zuschob. Dieser schien durch Rafes Wunsch erleichtert zu sein, wie man an dem neuen Feuer erkennen konnte, mit dem das Orchester drei Taktschläge anstimmte und zu einem lebhaften Walzer überging.
Da noch keiner tanzte, hatte Mystere ein beunruhigendes Gefühl, als Beiloch zurückkam und sie fest beim Arm griff. »Geben Sie mir die Ehre?«
»Ich würde lieber nicht, ich ... Mr. Belloch!«
Ihr Protest war ihm jedoch völlig egal. Seine linke Hand legte sich einfach auf ihren Rücken und er wirbelte sie hinaus in den leeren Pavillon im Freien.
Von Anfang an konnte sie erkennen, dass er sie mit seiner Stärke und seinem Geschick einschüchte rn wollte, denn es wurde sehr bald deutlich, dass Rafe Belloch ein
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