Diebin der Zeit
fehlen. Die Fassade täuscht.«
In diesem Augenblick wird die Tür geöffnet. Eine dezent geschminkte, sehr üppige Frau in einem geschmackvollen, offenherzigen Kleid begrüßt Cees wie einen verloren geglaubten, unerwartet heimgekehrten Sohn. Dabei plappert sie wie ein Wasserfall in jenem holländischen Dialekt, den ich schon bei Cees nicht verstehe. Er erwidert in derselben Sprache. Sie drücken und kosen sich, und erst nach einer guten Weile beachtet die walkürenhafte Erscheinung mich. In ihren Augen blitzt es auf.
»Oh«, sagt sie. Es bleibt das einzige, was ich verstehe, und als sie schweigt, wende ich mich mit hörbarem Vorwurf an Cees. »Wer ist das? Und was sagt sie?«
»Das?« Sein Lächeln wird nun endgültig zur Fassade, genauso falsch wie die des Hauses. »Das ist die warmherzige Camille. Sie führt dieses Haus der Freude und heißt dich willkommen. Wenn du keine Schwierigkeiten machst, wird sie dir wie eine Mutter sein und dich alles lehren, was du in diesem Gewerbe wissen mußt .«
*
Das Haus, zu dem mich Cees gebracht hat, ist ein Bordell - aber nicht irgendein Sündenpfuhl, in dem es abgehalfterte Huren mit schmutzigen Seeleuten und Tagedieben treiben, sondern eine der ersten Adressen für namhafte Herren, die nächtens nicht Weg noch Risiko scheuen, um hier ihre ausschweifenden Gelage zu feiern und öffentlich verpönten Neigungen nachzugehen ...!
Und ich? Warum lasse ich in dieser erniedrigenden Weise mit mir umspringen? Gott, wenn ich die Antwort darauf wüßte!
Von der ersten Stunde an sind die Eindrücke, die mich in diesem Haus bestürmen, so faszinierend widersprüchlich, daß ich gar nicht auf den Gedanken verfalle, die schreckliche Kraft in mir zu wecken, um Cees für seinen Betrug an mir zu strafen.
Camille führte mich von Raum zu Raum, und Cees übersetzt mir ihre Erklärungen oder gibt selbst Kommentare ab. Ich lasse es geschehen, als wäre es ein Traum. Die »Warmherzige«, wie Cees sie nennt, zeigt mir die Räume, in denen zahlungskräftige Freier empfangen werden. Es sind nicht nur erstaunlich saubere Zimmer mit überaus bequem scheinenden Lotterbetten, sondern, über die Stockwerke verteilt, auch mehrere große Salons, in denen Mannsleuten beim Glücksspiel Gesellschaft geleistet wird, ehe man sich - bei gegenseitigem Gefallen - über intimere Spiele zu verständigen weiß und zurückzieht.
Cees streichelt mir in einem dieser pompösen Räume über die Wange. Er scheint meine Gedanken zu erahnen, auch das aus meiner Sicht wohl gerechtfertigte Mißtrauen, denn er sagt: »Es stimmt. Alle, die sich hier verdingen, tun dies freiwillig. Niemand wird gezwungen, auch du nicht. Zwang würde nur die Atmosphäre stören, in der sich unsere ausgesuchten Gäste am wohlsten fühlen. Und sehr gut ausgesucht werden auch diejenigen, die den feinen Herren hier ihre Gunst schenken dürfen.«
»Von dir?« frage ich und sehe ihn an.
»Ja.«
»Gehört dieses Haus dir?«
Er bejaht erneut, ohne jede Verlegenheit.
»Und hast du jede Frau, die hier >aus freien Stücken< ihren Stolz verschachert, beschält, um dich von ihrer Eignung zu überzeugen?«
Cees nickt. Seine Hand in meinem Gesicht hält kurz inne, dann legt sich sein Finger warm auf meine Lippen. »Ich habe dir auf unserer Reise nichts versprochen, was nicht wahr wäre. Hier wartet, wenn du willst, wirklich ein neues Leben in bescheidenem Wohlstand auf dich - und das ist mehr, als du aus eigener Kraft je erreichen könntest, oder? Und der Preis muß ganz und gar nicht dein Stolz sein! Als ich dich traf, warst du in einem so desolaten Zustand, daß ich die außergewöhnliche Schönheit unter all dem Schmutz und den Lumpen fast übersehen hätte. Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist, welches Unglück dir all deine Erinnerungen raubte, so daß du nicht mehr weißt, woher du stammst und was für ein Leben du früher geführt hast. Sicher ist: Wenn du mir nicht begegnet wärest, wenn du die staubige Straße weitergewandert und einem Halunken in die Hände gefallen wärest, wie es sie in rauhen Mengen gibt, dann lägest du vielleicht heute schon in irgendeiner Gosse oder würdest in einem der Zuchthäuser verrotten. Darüber solltest du nachdenken und dich dann entscheiden. Aber allzu lange werde ich mein Angebot nicht aufrechterhalten .« Er zieht seine Hand zurück.
Camille steht vor einem mächtigen Badezuber, der nicht nur zum Waschen, sondern gewiß auch für frivolere Dinge gebraucht wird. Sie lächelt stumm, abwartend wie Cees,
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