Diebin der Zeit
Rückhalt benutzt habe und er sich an mich drücken durfte.
In jener Nacht wollte er noch mehr. Ich aber jagte ihn zum Teufel und drohte, das ganze Haus zusammenzuschreien, sollte er mich nicht sofort in Frieden lassen.
Seine Flüche werde ich nie vergessen.
Und er mein Zieren nicht.
Es hat uns beide nicht davon abgehalten, zusammenzubleiben.
»Hör sofort auf, mich so anzustarren, Lydia!«
Seine Stimme stoppt den Flug meiner Gedanken. Cees hat seine Haltung nicht verändert; noch immer kauert er mit verschränkten Armen auf der gegenüberliegenden Kutschbank und stützt das Kinn auf die Brust. Aber nun blickt er mich von unten herauf an, so daß seine Augen fast weiß sind, und sein ganzes Wesen gewinnt dadurch etwas von jener Dimension, die eigentlich doch ich in mir trage: Unheimlich glimmen sie zu mir herüber.
Cees ist Anfang dreißig. Er hat ein schmales, markantes Gesicht, und die Augen sind sonst vielleicht das Schönste an ihm. Die Vorstellung, das kluge und interessierte Leuchten darin einmal vergehen zu sehen, verursacht mir eine Gänsehaut - als wäre nicht ich selbst es, die darüber entscheidet, ob es je soweit kommt.
»Wie sehe ich dich denn an?« frage ich zurück.
Das Spiel der Schatten im Innern der Kutsche erinnert an die in mir hausenden Gespenster. Sie toben nicht nur in meinem Kopf, sondern überall in meinem Körper, und ich bin schon froh, daß sie leiser geworden sind - aber werden sie auch schwächer? Besteht Hoffnung, daß sie eines Tages, gar nicht fern, ganz verstummen und Ruhe geben? Mich Ruhe finden lassen?
Ich weiß nichts über mich, gar nichts. Nicht einmal der Name, von Cees verliehen, gehört wirklich mir. Eine Frau, um deren Gunst er vor langer Zeit vergeblich warb, hieß so - das jedenfalls erzählte er mir.
Ein Name ist so gut wie der andere. Warum also nicht Lydia .?
»Ich weiß nicht. Aber es gefällt mir nicht.« Er schürzt die Lippen. »Nein, es gefällt mir ganz und gar nicht.«
Ich drehe den Kopf zur Seite. Meine Finger schieben erneut den Vorhang beiseite, und ich vertiefe mich wieder in die Blitze, die den Tag erhellen, der in Regen ertrinkt.
Eine kleine Weile lang stelle ich mir vor, dieses Unwetter sei nur meinetwegen geschickt worden. Als versuchte die Natur ein Ding, das nicht ihr, sondern einer dunklen, jenseitigen Schöpfung entsprungen ist, wieder dorthin zu spülen, woher es gekommen ist.
Ich wünschte, ich wüßte, wo der Ort liegt, an dem ich zu Hause war. Zugleich aber wuchert wie ein bösartiges Gewächs die Gewißheit in mir, daß dieser Ort längst aufgehört hat zu existieren. Weil er erloschen ist. Zusammen mit dem, was die Menschen Erinnerung nennen .
*
Als wir Amsterdam erreichen, spiegelt sich die Sonne in unzähligen Pfützen. Am Himmel jagen wenige noch verbliebene Wolken. Es ist brütend heiß geworden und kaum noch auszuhalten im Verschlag der Kutsche, die wenig später vor einem ebenso einfachen wie solide errichteten Gebäude hält. Die Backsteinfassade ist von Rundbogenfenstern und -türen durchsetzt, die dazugehörigen Läden sind in leuchtenden Farben gestrichen.
Cees hilft mir beim Aussteigen. Der Kutscher bleibt auf seinem Bock sitzen und wirft das Gepäck meines Begleiters zu Boden. Ich selbst habe nichts außer dem Kleid, das ich am Leib trage. Mein Liebhaber hat es bezahlt. Geld scheint für ihn keine Rolle zu spielen, doch meine geheimen Erwartungen, das Ziel unserer Reise betreffend, werden enttäuscht.
Hier wohnt mein Galan? Das Gebäude sieht nicht besser aus als die vielen hohen Speicher, an denen wir vorbeigefahren sind. In der Luft hängt Rauch, der aus den Schornsteinen der umliegenden Häuser quillt. Überall brennen die Torffeuer, selbst bei dieser Hitze. Die Leute heizen nicht nur, sondern kochen auch damit.
»Da sind wir«, sagt Cees.
Meine Miene verrät, was ich von dieser Adresse halte, aber er geht mit einem Lächeln darüber hinweg, zahlt den Kutscher aus, schultert sein Gepäck und führt mich am Arm zum Eingang. Erst jetzt fällt mir auf, daß wir die einzigen Menschen weit und breit sind. Die Straße liegt verlassen, als die Kutsche sich mit Peitschenknallen entfernt.
»Das ist dein Heim?« frage ich, als er mit der Faust in einem verab -redet klingenden Rhythmus gegen das Türholz schlägt.
»Mein Heim?« Irgend etwas an seinem Lächeln sollte mich beunruhigen. Aber ich höre nicht auf die warnende Stimme in meinem Innern. »Es ist dein Zuhause - von heute an. Keine Sorge, dir wird es an nichts
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