Diener der Finsternis
Karten und Skalen. Beide Männer fühlten eine merkwürdige Befreiung. Ihre Gehirne arbeiteten jetzt, wo es zum Handeln kam, wieder mit alter Präzision.
Der Herzog, der wußte, daß es keine Worte gab, mit denen er Marie Lou trösten konnte, hielt schweigend ihre Hand. Sie spürte von neuem seine Verzweiflung, daß er dies schreckliche Unglück über sie gebracht hatte. Um ihn abzulenken, näherte sie ihren Mund seinem Ohr und erzählte ihm von ihrem Traum und dem alten Buch, in dem sie gelesen hatte. De Richleau sah sie neugierig an und brüllte ihr einige Fragen zu.
Bei dem Dröhnen der Motoren konnte sie nicht alles verstehen. Sie erfaßte jedoch, daß er außerordentlich interessiert war. Offenbar war er der Meinung, sie habe von dem berühmten Roten Buch von Appin geträumt, einer großartigen Abhandlung über Magie, die im Besitz der heute ausgestorbenen Stewards von Invernahyle gewesen war. Das Buch war verlorengegangen. Seit mehr als hundert Jahren hatte man nichts mehr darüber gehört. Marie Lous Beschreibung und die Legende, daß nur der es verstehen könne, der beim Lesen einen eisernen Reifen um die Stirn trug, erweckten in dem Herzog die Überzeugung, es müsse dieses Buch gewesen sein, das sie im Traum gesehen hatte. Er drängte sie, sich zu erinnern, ob sie etwas von dem Inhalt wahrgenommen hatte.
Marie Lou dachte angestrengt nach. Sie hatte auf einer der Pergamentseiten einen Satz in verblaßten, altertümlich geformten Buchstaben gelesen und im Traum auch verstanden, aber jetzt konnte sie sich die Bedeutung nicht mehr vergegenwärtigen. Da das Sprechen so anstrengend war, gaben der Herzog und Marie ’ Lou die Unterhaltung schließlich auf.
Mit hundert Meilen pro Stunde zog das Flugzeug über die englischen Grafschaften. Die Freunde nahmen von der Landschaft kaum Notiz. Alle ihre Gedanken waren auf ihr Ziel gerichtet, auf Paris und auf den Mann mit dem verstümmelten Ohr. Und würden sie vor Mocata eintreffen?
Beinahe ohne es zu merken, überquerten sie den Kanal. Marie Lou schrak zusammen, als Richard das Flugzeug steil nach unten zog. Unter ihnen schimmerten die Lichter von Le Bourget. Die Maschine holperte über die Landebahn und stand.
Sie beantworteten geistesabwesend die Fragen der Flughafenbeamten, passierten den Zoll, stiegen in ein Taxi und fuhren auf das Zentrum von Paris zu. Inzwischen war es wieder Abend geworden.
Hier und da flammten schon die Leuchtschriften auf den hohen Gebäuden auf. Die Lichter der Cafés erhellten kleine Ausschnitte der Boulevards und ließen Marmortischchen mit Leuten, die ihren Aperitif tranken, und das junge Grün der gestutzten Straßenbäume sichtbar werden.
Keiner von ihnen sprach, während das Taxi jede Gelegenheit nutzte, sich durch den Verkehr zu winden. Nur Rex beugte sich einmal vor und murmelte: »Ich habe dem Fahrer das Ritz angegeben. Dort werden wir die Adresse von unserem Vogel ausfindig machen können.«
Sie fuhren an der Oper vorbei, den Boulevard de la Madeleine hinunter und bogen nach links zur Place Vendôme ein. Mit einem Ruck blieb der Wagen stehen. Ein livrierter Portier eilte herbei und öffnete die Tür. Sie stiegen aus.
»Bezahlen Sie den Fahrer und geben Sie ihm ein gutes Trinkgeld«, befahl Rex ihm und ging den anderen voran.
Einer der Hotelangestellten erkannte ihn sofort und kam lächelnd auf ihn zu.
»Monsieur van Ryn, welch ein Vergnügen! Sie wollen mit Ihrer Gesellschaft bei uns wohnen? Wie viele Räume benötigen Sie? Ich hoffe, Sie werden einige Zeit hierbleiben.«
»Zwei Einzel- und ein Doppelzimmer mit Bad und, wenn möglich, im gleichen Stockwerk einen Salon«, erwiderte Rex kurz.
»Wie lange wir bleiben, kann ich noch nicht sagen. Ich habe dringende geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen. Kennen Sie zufällig einen Bankier namens Castelnau – einen älteren Herrn mit grauen Haaren und scharfgeschnittenen Zügen, dem ein Stück vom linken Ohr fehlt?«
»Mais oui, Monsieur. Er kommt häufig zum Lunch her.«
»Gut. Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Nein, aber ich kann mich erkundigen.« Der Angestellte verschwand im Büro und kehrte kurze Zeit später mit einem aufgeschlagenen Telefonbuch zurück.
»Das wird er sein, Monsieur. Monsieur Laurent Castelnau, 72, Maison Rambouillet, Parc Monceau. Das ist ein Appartement-Haus. Möchten Sie eine Telefonverbindung hergestellt haben?«
»Ja, bitte«, nickte Rex. Als der Franzose davongeeilt war, flüsterte er dem Herzog zu: »Überlaß das am besten mir. Ich weiß,
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