Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
nüchtern-geschäftsmäßigen Stimmung. Das Thema war der Tod, der erste Punkt auf meiner Liste. Bevor ich eintraf, hatte Morrie sich ein paar Notizen auf kleinen weißen Blättern gemacht, damit er nichts vergaß. Seine zittrige Handschrift war mittlerweile für niemanden außer ihm selbst zu entziffern. Wir hatten schon fast Labor Day, und durch die Fenster des Arbeitszimmers konnte ich die spinatfarbenen Hecken des Gartens sehen und die Rufe von Kindern hören, die weiter unten auf der Straße spielten, in ihrer letzten Woche der Freiheit, bevor die Schule begann.
In Detroit bereiteten sich die Streikenden bei der Zeitung auf eine gewaltige Feriendemonstration vor, um die Solidarität der Gewerkschaften gegen das Management unter Beweis zu stellen. Auf dem Flug hatte ich von einer Frau gelesen, die ihren Mann und zwei Töchter im Schlaf erschossen
hatte. Sie behauptete, sie habe sie vor den »schlechten Menschen« beschützt. In Kalifornien waren die Rechtsanwälte im O. J. Simpson Prozeß angesehene und berühmte Männer geworden.
Hier in Morries Büro ging das Leben einen kostbaren Tag nach dem anderen weiter. Jetzt saßen wir beisammen, etwa einen Meter von der letzten Neuanschaffung des Hauses entfernt: einer Sauerstoffmaschine. Sie war klein und tragbar, etwa kniehoch. Manchmal, wenn er in der Nacht nicht genügend Luft bekommen konnte, befestigte Morrie den langen Plastikschlauch an seiner Nase, steckte ihn an seine Nasenflügel wie einen Blutegel. Ich haßte die Vorstellung, daß Morrie an irgendeine Art Maschine angeschlossen war, und ich versuchte, sie nicht anzuschauen, während Morrie sprach.
»Jeder weiß, daß er sterben muß«, sagte er noch einmal, »aber niemand glaubt es. Wenn wir es täten, dann würden wir die Dinge anders machen.«
»Also machen wir uns, was den Tod angeht, etwas vor«, sagte ich.
»Ja. Aber es gibt eine bessere Herangehensweise. Zu wissen, daß du sterben mußt, und jederzeit darauf vorbereitet zu sein. Das ist besser. Auf die Weise kannst du tatsächlich intensiver leben, während du lebst.«
»Wie kann man jemals darauf vorbereitet sein zu sterben?«
»Tu das, was die Buddhisten tun. Stell dir vor, daß jeden
Tag ein kleiner Vogel auf deiner Schulter sitzt, der dich fragt: ›Ist heute der Tag? Bin ich bereit? Tue ich alles, was ich tun sollte? Bin ich der Mensch, der ich sein möchte?‹«
Er drehte seinen Kopf zu seiner Schulter, als säße der kleine Vogel tatsächlich dort.
»Ist heute der Tag, an dem ich sterbe?« sagte er.
Morrie verwendete die Weisheiten aller Religionen. Er wurde als Jude geboren, wurde aber als Teenager zum Agnostiker, zum Teil wegen all des Unglücks, das ihm als Kind widerfahren war. Er übernahm einige der philosophischen Lehren des Buddhismus und des Christentums, aber er fühlte sich kulturell noch immer im Judentum zu Hause. Er war sozusagen ein religiöser Straßenköter, was ihn gegenüber den Studenten, die er im Laufe der Jahre unterrichtete, noch offener und toleranter machte. Und die Dinge, die er in seinen letzten Monaten auf der Erde sagte, schienen alle religiösen Unterschiede zu überschreiten. Offenbar ist das eine Einstellung, die der bevorstehende Tod mit sich bringt.
»Die Wahrheit ist«, erklärte er, »wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.«
Ich nickte.
»Ich wiederhol’ es noch einmal«, sagte er. »Wenn du lernst, wie man stirbt, dann lernst du, wie man lebt.« Er lächelte, und mir wurde klar, was er tat. Er sorgte dafür, daß ich diesen Punkt wirklich verstand, ohne mich in Verlegenheit zu bringen, indem er nachfragte. Dies war einer der Aspekte, die ihn zu einem guten Lehrer machten.
»Hast du viel über den Tod nachgedacht, bevor du krank wurdest?« fragte ich.
»Nein«, sagte Morrie lächelnd. »Ich war wie alle anderen. Einmal sagte ich in einem Moment der überschwenglichen Freude zu einem Freund: ›Ich werde der gesündeste alte Mann sein, dem du je begegnet bist!‹«
»Wie alt warst du?«
»Über sechzig.«
»Also warst du optimistisch.«
»Warum nicht? Wie ich schon sagte: Niemand glaubt wirklich, daß er sterben wird.«
»Aber jeder kennt jemanden, der gestorben ist«, sagte ich. »Warum ist es so schwer, über das Sterben nachzudenken?«
»Weil«, fuhr Morrie fort, »die meisten von uns wie Schlafwandler durch die Gegend laufen. Wir kosten das Leben nicht voll aus, weil wir ständig im Halbschlaf sind und Dinge tun, von denen wir glauben, wir müßten sie
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