Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Wie wär’s mit: ›Ich hoffe, Sie können die heilende Kraft finden, die in der Trauer liegt.‹ Ist das besser?«
Rob nickte. »Schreib noch: ›Danke, Morrie‹«, sagte Morrie.
Ein anderer Brief von einer Frau namens Jane wurde vorgelesen, die ihm für seine Inspiration im »Nightline« -Programm dankte. Sie bezeichnete ihn als einen Propheten.
»Das ist ein sehr großes Kompliment«, sagte ein Kollege.
»Ein Prophet.«
Morrie schnitt eine Grimasse. Er war offensichtlich mit der Beschreibung nicht einverstanden. »Wir sollten ihr für ihr Lob danken. Und schreib ihr, ich bin froh, daß meine Worte ihr etwas bedeutet haben.
Und vergiß nicht zu unterschreiben: ›Danke, Morrie.‹«
Dann war da noch ein Brief von einem Mann in England, der seine Mutter verloren hatte und Morrie bat, ihm zu helfen, durch die spirituelle Welt Kontakt mit ihr aufzunehmen. Und ein Brief von einem Paar, das nach Boston kommen wollte, um ihn kennenzulernen. Und ein langer Brief von einer früheren Graduiertenstudentin, die über ihr Leben nach der Universität schrieb. Es war darin die Rede von einem Selbstmordversuch und drei Totgeburten. Und von einer Mutter, die an ALS gestorben war. Die Schreiberin brachte ihre Angst zum Ausdruck, daß sie, die Tochter, die Krankheit ebenfalls bekommen würde. Und so weiter und so weiter. Drei Seiten. Vier Seiten.
Morrie hörte sich die lange, düstere Geschichte an. Als der Brief schließlich zu Ende war, sagte er leise: »Tja, was sollen wir antworten?«
Die Gruppe schwieg. Schließlich sagte Rob: »Wie wär’s mit: ›Danke für Ihren langen Brief?‹«
Alle lachten. Morrie schaute seinen Sohn an und strahlte.
Der fünfte Dienstag
Wir reden über die Familie
Es war die erste Woche im September, die Woche, in der die Schule wieder anfing, und nach fünfunddreißig Herbstsemestern hatte mein alter Professor zum erstenmal keine Klasse, die auf dem Campus auf ihn wartete. Boston wimmelte von Studenten, die in zweiter Reihe parkten und Schrankkoffer entluden. Und hier saß Morrie in seinem Arbeitszimmer. Es schien irgendwie nicht in Ordnung zu sein, wie bei den Footballspielern, die sich nach vielen Jahren vom Sport zurückziehen und mit jenem ersten Sonntag zu Hause konfrontiert werden, an dem sie fernsehen und denken: Ich könnte das noch immer machen. Ich habe im Umgang mit jenen Spielern gelernt, daß es am besten ist, sie allein zu lassen, wenn die alten Erinnerungen zurückkehren. Sag nichts. Aber schließlich brauchte ich Morrie nicht daran zu erinnern, daß seine Zeit ablief.
Wir waren von den Mikrofonen, die man in der Hand hielt, zu den Minimikros übergegangen, die bei den Fernsehleuten so beliebt sind. Man kann sie an einen Kragen oder
Aufschlag klemmen. Da Morrie nur weiche Baumwollhemden trug, die locker an seinem schrumpfenden Körper hingen, wackelte das Mikrofon ständig hin und her und fiel herunter, und ich mußte häufig hinüberlangen und es festmachen. Morrie schien das zu genießen, weil ich ihm dadurch nahe kam, und sein Bedürfnis nach Körperkontakt war stärker als je zuvor. Wenn ich mich zu ihm hinunterbeugte, hörte ich seinen keuchenden Atem, sein schwaches Husten, und das leise Schmatzen seiner Lippen, bevor er schluckte.
»Tja, mein Freund«, sagte er, »worüber reden wir heute?«
»Wie wär’s mit ›Familie‹?«
»Familie.« Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Tja, meine siehst du ja, überall um mich herum.«
Er nickte in Richtung der Fotos auf seinen Bücherborden, von Morrie als Kind mit seiner Großmutter, Morrie als junger Mann mit seinem Bruder David, Morrie mit seiner Frau Charlotte, Morrie mit seinen beiden Söhnen, Rob, einem Journalisten in Tokio, und Jon, einem Computerexperten in Boston.
»Ich denke, im Lichte dessen, worüber wir in all diesen Wochen geredet haben, wird die Familie sogar noch wichtiger«, sagte er.
»Tatsache ist, es gibt keine Basis, keinen sicheren Grund, auf dem die Menschen heute stehen können, wenn nicht die Familie. Das ist mir sehr deutlich geworden, während ich krank war. Wenn du die Unterstützung und Liebe und Fürsorge, die du von deiner Familie bekommst, nicht hast, dann
hast du nur wenig. Liebe ist so unendlich wichtig. Wie unser großer Dichter Auden sagte: ›Liebt einander oder geht zugrunde. ‹«
»Liebt einander oder geht zugrunde.« Ich schrieb den Satz nieder. »Auden hat das gesagt?«
»Liebt einander oder geht zugrunde«, wiederholte Morrie. »Das ist gut, nicht? Und es ist so
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