Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Morrie im Bett lag – sein letzter Aphorismus: »Wenn du im Bett bleibst, bist du tot«, klang mir noch in den Ohren. Und wie er so zusammengekrümmt auf der Seite lag, war er so klein, so eingeschrumpft, daß sein Körper mehr der eines Jungen als der eines Mannes war. Ich sah die Blässe seiner Haut, die weißen Haarsträhnen, sah, wie seine Arme schlaff und hilflos herunterhingen. Ich dachte daran, wieviel Zeit wir damit verbringen, unseren Körper zu formen, Gewichte zu heben, Sit-ups zu machen, und am Ende wird er uns von der Natur ohnehin wieder weggenommen. Unter meinen Fingern fühlte ich das lose Fleisch auf Morries Knochen, und ich klopfte sehr fest, so, wie man es mir gesagt hatte. Die Wahrheit ist, ich hämmerte auf seinen Rücken, während ich eigentlich Lust gehabt hätte, gegen die Wände zu hämmern.
»Mitch?« keuchte Morrie, und seine Stimme klang so ruckartig wie ein Preßlufthammer, während ich sein Fleisch bearbeitete.
»Ja?«
»Wann … hab’ ich … dir … ein B… gegeben?«
Morrie glaubte an das Gute in allen Menschen. Aber er sah auch, was aus ihnen werden konnte.
»Menschen sind nur böse, wenn sie bedroht werden«,
sagte er später an jenem Tag, »und genau das ist es, was in unserer Kultur passiert. Das ist es, was unsere Wirtschaft bewirkt. Selbst die, die in unseremWirtschaftssystem einen Job haben, fühlen sich bedroht, weil sie sich Sorgen machen, ihn zu verlieren. Und wenn du bedroht wirst, dann beginnst du, dich nur noch um dich selbst zu kümmern. Das Geldverdienen wird für dich zu einem Götzen. Es ist alles Teil dieser Kultur.«
Er atmete aus. »Und das ist der Grund dafür, warum ich mich ihr nicht unterwerfe.«
Ich nickte ihm zu und drückte seine Hand. Wir hielten uns jetzt regelmäßig an den Händen. Dies war wieder etwas Neues für mich. Dinge, die mich zuvor verlegen gemacht oder peinlich berührt hätten, waren jetzt etwas Alltägliches. Der Katheterbeutel, der mit dem Schlauch in Morrie verbunden und mit einer grünlichen Ausscheidungsflüssigkeit gefüllt war, lag unten am Sessel neben meinem Fuß. Ein paar Monate zuvor hätte ich mich vielleicht geekelt; jetzt war es bedeutungslos. Genauso bedeutungslos war der Geruch des Zimmers, nachdem Morrie den Nachtstuhl benutzt hatte. Der Luxus, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, die Badezimmertür hinter sich zu schließen, Raumspray hinter sich zu versprühen, wenn er wieder hinausging, war ihm mittlerweile versagt. Da war sein Bett, da war sein Sessel, und das war sein Leben. Ich möchte bezweifeln, daß es bei mir, wenn man mein Leben in einen solchen Fingerhut hineingezwängt hätte, besser gerochen hätte.
»Genau das meine ich, wenn ich davon rede, daß du deine eigene kleine Subkultur aufbauen mußt«, sagte Morrie. »Ich meine nicht, daß du jede Regel deiner Gemeinschaft mißachten sollst. Ich laufe beispielsweise nicht nackt herum. Ich fahre nicht über rote Ampeln. Die kleinen Dinge – da kann ich mich anpassen. Aber die großen – was wir denken, was wir wertschätzen –, bei denen mußt du selbst die Entscheidung treffen. Du darfst es nicht zulassen, daß irgend jemand – oder irgendeine Gesellschaft – das für dich festlegt.
Nimm beispielsweise meinen Zustand. Die Dinge, die mir jetzt peinlich sein sollten – daß ich nicht laufen kann, daß ich mir nicht den Hintern abwischen kann, daß ich am Morgen manchmal aufwache und weinen möchte –, an denen ist im Grunde nichts Peinliches oder Beschämendes.
Dasselbe gilt für Frauen, die nicht dünn genug, oder Männer, die nicht reich genug sind. Das sind bloß die Dinge, die unsere Kultur dir einreden will. Glaub sie nicht.«
Ich fragte Morrie, warum er nicht in ein anderes Land gezogen sei, als er jünger war.
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Südamerika. Neuguinea. Irgendwohin, wo die Leute nicht so egoistisch sind wie in Amerika.«
»Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Probleme«, erwiderte Morrie und hob die Augenbrauen, was bei ihm ein Achselzucken bedeutete. »Es geht, glaube ich, nicht darum wegzulaufen. Du mußt daran arbeiten, deine eigene Kultur zu erschaffen.
Schau mal, unabhängig davon, wo du lebst, ist der größte Defekt, an dem wir Menschen leiden, unsere Kurzsichtigkeit. Wir sehen nicht, was wir sein könnten . Eigentlich sollten wir unser Potential erkennen und es ausschöpfen können. Aber wenn du umgeben bist von Menschen, die sagen: ›Ich will jetzt haben, was mir zusteht, und zwar sofort‹, dann
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