Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
wird meinen Geist nicht kriegen. Sie wird meinen Körper kriegen. Sie wird meinen Geist nicht kriegen.«
Koppel war den Tränen nahe. »Das haben Sie gut gemacht.«
»Glauben Sie?« Morrie verdrehte die Augen in Richtung Decke. »Mittlerweile bin ich soweit, mit Ihm da oben zu schachern. Ich frage ihn: ›Werde ich auch einer von den Engeln sein?‹«
Es war das erstemal, daß Morrie zugab, mit Gott zu reden.
Der zwölfte Dienstag
Wir reden über Vergebung
»Vergebt euch selbst, bevor ihr sterbt. Dann vergebt anderen.«
Dies war ein paar Tage nach dem »Nightline« -Interview. Der Himmel war regenverhangen und dunkel, und Morrie lag unter einer Wolldecke. Ich saß am Fußende des Sessels, hielt seine nackten Füße. Sie waren schwielig und zusammengekrümmt, und seine Zehennägel waren gelb. Ich hatte eine kleine Flasche Lotion, und ich drückte etwas von der Flüssigkeit in meine Hände und begann, seine Fußgelenke zu massieren.
Dies war noch etwas, was ich seine Pfleger seit Monaten hatte tun sehen, und jetzt, da ich versuchte, soviel wie möglich von ihm festzuhalten, hatte ich mich erboten, es selbst zu machen. Morrie konnte noch nicht mal mehr mit den Zehen wackeln, spürte aber noch immer Schmerzen und Massagen halfen, sie zu lindern. Natürlich gefiel es Morrie auch, gehalten und berührt zu werden. Und zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, alles zu tun, was ich konnte, um ihm eine Freude zu machen.
»Mitch«, sagte er, das Thema »Vergebung« wieder aufgreifend. »Es ist sinnlos, Rachegefühle zu hegen oder mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Diese Dinge« – er seufzte – »diese Dinge sind etwas, was ich wirklich bereue. Stolz. Eitelkeit. Warum tun wir die Dinge, die wir tun?«
Meine Frage war, ob es wichtig sei, anderen zu vergeben. Ich hatte diese Filme gesehen, wo das Familienoberhaupt auf dem Totenbett liegt und nach seinem Sohn ruft, mit dem er lange im Streit lag, damit er Frieden mit ihm schließen kann, bevor er geht. Ich fragte mich, ob das bei Morrie auch so war, ob er auch diesen Impuls hatte, bevor er starb zu sagen: »Es tut mir leid.«
Morrie nickte: »Siehst du diese Skulptur da?« Er neigte den Kopf in Richtung einer Büste, die an der Wand seines Büros hoch oben auf einem Regal stand. Ich hatte sie nie zuvor bemerkt. Es war die Bronzebüste eines Mannes von Anfang Vierzig, der ein Halstuch trug und dem eine Haarsträhne in die Stirn fiel.
»Das bin ich«, sagte Morrie. »Ein Freund von mir hat das vor vielleicht dreißig Jahren geschaffen. Sein Name war Norman. Wir haben damals sehr viel Zeit miteinander verbracht. Wir gingen schwimmen. Wir fuhren nach New York. Er lud mich in sein Haus in Cambridge ein, und dort gestaltete er diese Büste von mir. Es dauerte mehrere Wochen, bis sie fertig war, aber er wollte es unbedingt perfekt machen.«
Ich betrachtete das Gesicht. Wie seltsam, einen dreidimensionalen Morrie zu sehen, so gesund, so jung, der von
oben auf uns herabschaute, während wir redeten. Sogar in Bronze gegossen hatte er einen verschmitzten Ausdruck, und ich dachte, sein Freund habe wohl auch etwas von seinem Temperament eingefangen.
»Tja, und dann kommt der traurige Teil der Geschichte«, sagte Morrie. »Norman und seine Frau zogen fort, nach Chicago. Ein wenig später hatte meine Frau, Charlotte, eine ziemlich schwere Operation. Norman und seine Frau haben nie mit uns Kontakt aufgenommen, obwohl sie davon gewußt haben. Charlotte und ich waren sehr verletzt, weil sie nie anriefen, um zu erfahren, wie es ihr ging. Deshalb ließen wir die Beziehung fallen.
Im Laufe der Jahre begegnete ich Norman gelegentlich, und er versuchte immer wieder, sich mit mir zu versöhnen, aber ich akzeptierte es nicht. Ich war mit seiner Erklärung nicht zufrieden. Ich war stolz. Ich schüttelte ihn ab.«
Es schnürte ihm die Kehle zusammen.
»Mitch … vor ein paar Jahren … starb er an Krebs. Ich bin so traurig darüber. Ich hab’ es nie geschafft, ihn zu besuchen. Ich bin nie dazu gekommen, ihm zu vergeben. Es schmerzt mich jetzt so sehr …«
Er weinte wieder, ein sanftes und stilles Weinen, und da sein Kopf schräg nach hinten lag, rollten die Tränen seitlich an seinen Wangen herunter, bevor sie seine Lippen erreichten.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Braucht es nicht«, flüsterte er. »Tränen sind okay.«
Ich fuhr fort, Lotion in seine leblosen Zehen zu massieren. Er weinte ein paar Minuten, allein mit seinen Erinnerungen.
»Es sind nicht nur die anderen, denen
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