Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
endest du mit ein paar Leuten, die alles haben, und einer Armee, die die Armen daran hindert, etwas davon zu stehlen.«
Morrie sah über meine Schulter hinweg zum Fenster hinter mir. Manchmal konnte man einen vorbeifahrenden Lastwagen oder einen Windstoß hören. Er starrte einen Moment auf die Häuser seiner Nachbarn und fuhr dann fort.
»Das Problem, Mitch, besteht darin, daß wir uns nicht klar darüber sind, daß alle Menschen einander sehr ähneln. Weiße und Schwarze, Katholiken und Protestanten, Männer und Frauen. Wenn wir mehr diese Ähnlichkeiten sehen würden, dann würden wir vielleicht in dieser Welt zu einer großen menschlichen Familie zusammenwachsen wollen und uns um jene Familie genauso wie um unsere eigene kümmern.
Wenn du stirbst, dann wird dir diese Ähnlichkeit ganz deutlich. Wir haben alle denselben Anfang – die Geburt – und wir haben alle dasselbe Ende – den Tod. Wie verschieden können wir also sein?
Investiere deine Kraft in die menschliche Familie. Investiere in Menschen. Bilde eine kleine Gemeinschaft jener Menschen, die du liebst und die dich lieben.«
Er drückte sanft meine Hand. Ich drückte fester zurück. Und wie beim »Haut-den-Lukas« auf dem Jahrmarkt, wo man einen Hammer schlägt und zuschaut, wie die Scheibe die Stange hochsteigt, konnte ich fast sehen, wie meine Körperwärme in Morries Brustkorb und seinen Hals und in seine Wangen und Augen stieg. Er lächelte.
»Am Anfang des Lebens, wenn wir kleine Kinder sind, brauchen wir andere zum Überleben, nicht wahr? Und am Ende des Lebens, wenn du so wirst wie ich, dann brauchst du andere zum Überleben, nicht wahr?«
Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Aber das Geheimnis ist: Dazwischen brauchen wir die anderen ebenfalls.«
Später an jenem Nachmittag gingen Connie und ich ins Schlafzimmer, um uns das Urteil der Geschworenen im O.-J. -Simpson-Prozeß anzuschauen. Die Szene knisterte vor Anspannung, als die Hauptpersonen sich alle der Jury zuwandten, Simpson in seinem blauen Anzug, umgeben von seiner kleinen Armee von Rechtsanwälten, wobei die Staatsanwälte, die ihn hinter Gittern sehen wollten, nur wenig mehr als einen Meter von ihm entfernt standen. Als der Obmann das Urteil – »Nicht schuldig« – verlas, schrie Connie auf.
»Oh, mein Gott!«
Wir sahen zu, wie Simpson seine Rechtsanwälte umarmte. Wir hörten zu, wie die Kommentatoren zu erklären versuchten, was das Urteil bedeutete. Wir sahen, wie Gruppen von Schwarzen in den Straßen vor dem Gericht feierten und wie Gruppen von Weißen wie gelähmt in Restaurants
saßen. Die Entscheidung wurde als sehr bedeutsam begrüßt, obwohl Tag für Tag Morde geschehen. Connie ging hinaus. Sie hatte genug gesehen.
Ich hörte, wie sie die Tür zu Morries Arbeitszimmer hinter sich schloß. Ich starrte auf das Fernsehgerät. Alle Menschen auf der Erde schauen sich das an , sagte ich zu mir selbst. Dann hörte ich aus dem anderen Zimmer an den Geräuschen, daß Morrie aus seinem Sessel gehoben wurde, und ich lächelte. Während der »Jahrhundertprozeß« sein dramatisches Ende erreichte, saß mein alter Professor auf der Toilette.
Wir haben 1979, in der Turnhalle des Brandeis College findet ein Basketballspiel statt. Das Team spielt gut, und die Fans der Studenten stimmen einen Singsang an: »Wir sind Nummer eins! Wir sind Nummer eins!« Morrie sitzt in der Nähe. Die Anfeuerungsrufe machen ihn nervös. Plötzlich, als wieder: »Wir sind Nummer eins!« ertönt, springt er auf und ruft: »Was ist verkehrt daran, Nummer zwei zu sein?«
Die Studenten sehen ihn an. Sie verstummen. Er setzt sich, lächelnd und triumphierend.
Die Fernsehaufnahmen III
Das »Nightline« -Team fand sich zum dritten und letzten Mal in Morries Haus ein. Die Stimmung während der Aufnahmen war jetzt eine ganz andere. Weniger wie bei einem Interview, mehr wie bei einem traurigen Abschied. Ted Koppel hatte mehrmals angerufen, bevor er kam, und Morrie gefragt: »Glaubst du, daß du es schaffst?«
Morrie war nicht sicher, ob er es schaffen würde. »Ich bin jetzt die ganze Zeit müde, Ted. Und häufig bleiben mir die Worte im Hals stecken. Wenn ich etwas nicht herausbringen kann, wirst du es dann für mich sagen?«
Koppel erwiderte, das sei kein Problem. Und dann fügte der normalerweise stoische Moderator hinzu: »Wenn du es nicht machen möchtest, Morrie, dann ist das völlig in Ordnung. Ich werde auf jeden Fall kommen und mich von dir verabschieden.«
Später grinste
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