Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Leben, nicht eine Beziehung.«
Es war ein neues Medikament zur Behandlung von ALS gefunden worden, das gerade zugelassen wurde. Es war kein Heilmittel, aber es zögerte den Tod hinaus, konnte möglicherweise den Verfall ein paar Monate hinauszögern. Morrie hatte davon gehört, aber er war schon zu krank. Im übrigen würde die Medizin erst in einigen Monaten erhältlich sein.
»Nicht für mich«, sagte Morrie.
Während der ganzen Zeit, in der er krank war, hegte Morrie niemals die Hoffnung, daß er geheilt werden würde. Er war absolut realistisch. Wenn es jemanden gäbe, so fragte ich ihn einmal, der ihn durch ein Wunder gesund machen könnte – würde er dann wieder der Mann werden, der er zuvor gewesen war?
Er schüttelte den Kopf. »Ich könnte keinesfalls zurückkehren. Ich bin jetzt ein ganz anderer Mensch. Ich bin ein anderer, was meine Einstellung betrifft. Ich habe es gelernt, meinen Körper zu schätzen, was ich zuvor nicht in solchem Maße getan habe. Ich befasse mich jetzt intensiv mit den großen Fragen des Lebens, den letzten Fragen, die uns niemals loslassen.
Das ist das Entscheidende, weißt du. Wenn du erst einmal mit diesen wichtigen Fragen in Berührung gekommen bist, dann kannst du dich nicht mehr von ihnen abwenden.«
»Und welches sind die wichtigen Fragen?«
»So wie ich es sehe, haben sie mit Liebe, Verantwortung, Spiritualität und Bewußtheit zu tun. Und wenn ich heute gesund
wäre, dann wären sie noch immer meine Themen. Sie hätten es schon sehr viel früher sein sollen.«
Ich versuchte, mir Morrie gesund vorzustellen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er die Decken von seinem Körper zog und aus dem Sessel aufstand, wie wir beiden dann in der Nachbarschaft einen Spaziergang machten, so wie wir damals auf dem Campus spazierengingen. Plötzlich wurde ich mir bewußt, daß es sechzehn Jahre her war, daß ich ihn zum letzten Mal stehen gesehen hatte. Sechzehn Jahre?
»Was wäre, wenn du einen Tag hättest, an dem du völlig gesund wärest?« fragte ich. »Was würdest du tun?«
»Vierundzwanzig Stunden?«
»Vierundzwanzig Stunden?«
»Warte mal… ich würde morgens aufstehen, meine Gymnastik machen, mit Tee und süßen Brötchen gemütlich frühstücken. Dann würde ich schwimmen gehen und meine Freunde bitten, mich zu besuchen. Ich würde nur einen oder zwei gleichzeitig kommen lassen, damit wir über ihre Familien, ihre Probleme reden können und darüber, wieviel wir einander bedeuten.
Danach würde ich in einem Garten spazierengehen, in dem ein paar Bäume wachsen, ich würde die Farben in mich aufnehmen, die Vögel betrachten, die Natur, die ich jetzt so lange nicht gesehen habe.
Am Abend würden wir alle zusammen in ein Restaurant gehen und dort ein tolles Nudelgericht essen, oder vielleicht ein bißchen Ente – ich liebe Ente –, und dann würden wir
die ganze Nacht durchtanzen. Ich würde mit all den wunderbaren Tanzpartnerinnen da draußen tanzen, bis ich erschöpft bin. Und dann würde ich nach Haus gehen und in einen tiefen, erholsamen Schlaf fallen.«
»Das ist alles?«
»Das ist alles.«
Es war so einfach. So durchschnittlich. Ich war im Grunde ein wenig enttäuscht. Ich hatte vermutet, daß er nach Italien fliegen oder mit dem Präsidenten zu Mittag essen oder am Strand herumtollen oder alles Exotische, das ihm in den Sinn kam, ausprobieren würde. Nach all diesen Monaten, in denen er dort im Sessel oder im Bett lag, unfähig, ein Bein oder einen Fuß zu bewegen – wie konnte er da in einem so durchschnittlichen Tag vollkommene Zufriedenheit finden?
Dann erkannte ich, daß das genau der Punkt war.
Bevor ich an jenem Tag fortging, fragte Morrie, ob er ein Thema zur Sprache bringen könnte.
»Dein Bruder«, sagte er.
Ich erschauderte. Ich weiß nicht, woher Morrie wußte, daß mich dieses Thema ständig beschäftigte. Ich hatte seit Wochen versucht, meinen Bruder in Spanien anzurufen und dann von einem seiner Freunde erfahren, daß er in regelmäßigen Abständen nach Amsterdam flog, um dort in ein Krankenhaus zu gehen.
»Mitch, ich weiß, daß es weh tut, wenn du mit jemandem, den du liebst, nicht zusammensein kannst. Aber du mußt es
lernen, seine Wünsche zu akzeptieren. Vielleicht möchte er nicht, daß du dein Leben unterbrichst. Vielleicht kann er mit einer solchen Belastung nicht fertig werden. Ich sage jedem, den ich kenne, daß er mit seinem normalen Leben weitermachen soll. ›Du darfst es nicht deshalb ruinieren‹, sage ich,
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