Dies Herz, das dir gehoert
vor etwas warnen. Es ist mir auch, als wüssten Sie etwas, wovon ich nichts weiß. – Ja, richtig, wer hat mich eigentlich in jener Nacht hierhergerufen? Es war eine weibliche Stimme!«
»Wer Sie angerufen hat?«, fragte der Arzt unbekümmert. »Das wird sich aus dem Nachtwachtbuch feststellen lassen. Ich sage Ihnen später Bescheid. – Und warnen will ich Sie tatsächlich. Sie haben Ihren Sohn lange nicht gesehen, Sie sitzen hier seit drei Tagen in Angst und Sorge, Sie sehnen den Augenblick herbei, wo Sie mit ihm sprechen können – ich warne Sie, seien Sie zurückhaltend, überwältigen Sie ihn nicht! Tun Sie nichts mit ihm, ehe Sie nicht seines Einverständnisses sicher sind. Fragen Sie ihn nach seinen Wünschen, denken Sie gar nicht an das, was Sie vielleicht gerne möchten.«
»Ich danke Ihnen, Herr Doktor«, sagte Frau Wiebe ein wenig steif. »Wir von der alten Generation sehen noch ein wenig auf Haltung. Ich werde mich bestimmt nicht gehen lassen. Und im Übrigen bin ich Mutter, und keiner kann besser als eine Mutter die Wünsche des Sohnes erraten.«
»Nun also«, sagte der Arzt lächelnd, aber nicht völlig überzeugt, »so wären wir uns also einig. Wir werden äußerst behutsam und sachte vorgehen. Wir werden die Wünscheunseres Patienten respektieren. Übrigens«, sagte er und wandte sich nun ganz dem Kranken zu, »bin ich der Überzeugung, unser junger Freund schläft gar nicht mehr, sondern er horcht schon eine ganze Weile mit halbem Bewusstsein auf den Klang unserer Stimmen. Wir wollen doch einmal sehen. – Herr Wiebe«, sagte er mit lauterer Stimme, »sehen Sie mich doch mal an, Herr Wiebe!«
»O bitte nicht, Herr Doktor!«, rief Frau Wiebe wieder in plötzlicher Angst und berührte den Arzt an der Schulter.
Er wehrte sie ab.
»Ich bin der Doktor Leer, Herr Wiebe«, sagte der Arzt. »Sie liegen in einem Krankenhaus. Sie sind ein bisschen gefallen, Herr Wiebe, aber jetzt geht es Ihnen schon wieder ganz nett ... Sie verstehen mich doch?«
Der Kranke hatte seine Augen aufgeschlagen und sah mit seinem hageren, von Bartstoppeln schwärzlichen Gesicht auf den Arzt.
Nun bewegte er langsam den Kopf als Zeichen der Bejahung.
»Ausgezeichnet!«, lobte der Arzt erfreut. »Wie ist Ihnen denn? Warten Sie, ich will es Ihnen sagen. Kopf stark benommen – nicken Sie, wenn’s stimmt –, Schmerzen am ganzen Leib, Druck im Magen, Ohrensausen und ein bisschen Flimmern vor den Augen. Stimmt’s? Na also – und wer bin ich nun? Wir wollen doch mal sehen, ob Sie das Sprechen nicht verlernt haben!«
Ein unverständlicher Laut kam von Johannes Wiebes Lippen; hinten am Bettende schluchzte Frau Wiebe, von der Schwester zurückgehalten, leise auf.
Der unverständliche, mühsame Laut wiederholte sich.
Aber der Arzt war hocherfreut. »Nun also!«, sagte er. »Richtig, Herr Wiebe! Ich bin der gute Onkel Doktor. Ganzwie damals, als wir noch als kleiner Junge mit verdorbenem Magen im Bett lagen. Und wer kam da noch ans Bett, Herr Wiebe, wer saß da und machte die Umschläge und gab die bittere Medizin?«
Der Kranke, folgsam wie ein Kind, ließ seinen Blick nicht vom Gesicht des Arztes. Wieder versuchten seine Lippen ein Wort zu formen, diesmal klang es schon fast verständlich, das Wort »Mutter«.
»Nun sehen Sie, mein Freund«, sagte der Arzt fröhlich. »Das geht ja schon immer besser. Und weil Sie nun in einem wirklich gut geleiteten deutschen Krankenhaus sind, haben wir natürlich auch eine Mutter für unsere kranke Jugend da! Kommen Sie her, Frau Wiebe, und sagen Sie Ihrem Sohn guten Tag!«
Eben noch hatte Frau Wiebe geschluchzt, aber nun, da sie an das Bett ihres Hannes trat, war ihre Haltung untadelig. Sie lächelte, leise berührte sie die Hand ihres Sohnes, sie sagte: »Guten Tag, Hannes, ich freu mich ...«
Und setzte sich, ihre Hand auf der seinen, neben das Bett. Nur wenig zuckten ihre Lippen.
»Mutter!«, sagte Johannes Wiebe ganz deutlich. »Mutter! Dass du hier bist! Ich freu mich so!«
»Und ich erst!«, antwortete die Mutter leise. »Hannes, du mein alter Hannes!«
»So ...«, sagte der Arzt heiter. »Und nun werden wir nach der Uhr drei Minuten so still daliegen, und dann werden wir schön weiterschlafen. Und wenn wir dann aufwachen, werden wir uns ganz anders fühlen. Wir werden ein bisschen essen, wir werden uns ein bisschen unterhalten ...«
»Und dann kommst du bald zu mir, Hannes!«, sagte Frau Erna Wiebe nun doch. »Sieh doch einmal, deine Bilder, deine Bücher ...«
Der Arzt
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