Dies Herz, das dir gehoert
große Dame – aber Hanne war auch etwas! Hanne hatte fürHannes mehr getan als Frau Wiebe! Und Hanne war nicht Marie Jäckel, Hanne lehnte sich auf, widersprach – wenn es nur gutgehen würde, dieses Kennenlernen der beiden ...
Vor der Tür des Krankenhauses – im Abenddämmern schon – fragte Frau Wiebe: »Wie weit ist es denn? Am besten nehme ich wohl ein Auto?«
»Es sind kaum zehn Minuten, gnädige Frau. Aber ich kann leider im Auto nicht mitfahren. Es ist gleich Ladenschluss. Ich muss unbedingt noch ein paar Besorgungen machen.«
»Vielleicht kann ich schon vorausfahren«, sagt Frau Wiebe, die der Gedanke, mit diesem kleinen Mädchen Besorgungen machen zu müssen, nicht gerade begeistert.
»Aber Hanne wird noch nicht zu Haus sein«, sagt Marie Jäckel. »Hanne kommt nie vor ein halb acht.«
»Ja, also werde ich mit Ihnen einkaufen, mein Kind«, sagt Frau Wiebe ergeben. »Was müssen Sie denn einkaufen?«
»Schneiderzutaten. Ich bin Schneiderin, gnädige Frau. Ich heiße übrigens Jäckel, Marie Jäckel.«
»Und das ist so eilig?«
»Ja, ich habe das Kleid für morgen versprochen.«
»Meine Schneiderinnen halten nie ihre Versprechungen«, sagte Frau Wiebe mit einem belustigten Seufzer.
»Vielleicht nicht«, antwortete Marie Jäckel. »Vielleicht ist es bei denen etwas anderes. Ich aber, gnädige Frau, ich arbeite nur für kleine Leute, und wenn die sich schon ein Kleid machen lassen, so brauchen sie es auf den Tag und oft auf die Stunde. Das Kleid, das morgen früh fertig sein soll, ist für eine Silberhochzeit bestimmt – da muss man schon sein Wort halten.«
»Da Sie so zuverlässig sind, werde ich von nun an alle meine Kleider bei Ihnen arbeiten lassen, Fräulein Jäckel«, sagte Frau Wiebe scherzend.
Marie Jäckel aber nahm es für ernst und blieb erschrocken stehen. »O nein, bitte nicht, gnädige Frau!«, sagte sie bittend. »Ich könnte nie für Sie arbeiten. So einen schönen Wollstoff habe ich noch nie zugeschnitten, ich käme vor Angst um! Und der Schick, und wie das sitzt – nein, ich bin nur eine ganz kleine Schneiderin ...«
»Das Kleid ist aus Paris, mein liebes Kind!«, sagte Frau Wiebe besänftigt, denn es freut auch noch die kummervollste wie die stolzeste Frau, wenn ihre Kleider bewundert werden. »Aber Sie haben einen guten Blick, das ist auch etwas, und wenn Sie sich ein wenig weiterbilden könnten ...«
»O nein! Bitte nicht! Ich möchte bleiben, was ich bin. Ich bin gar nicht ehrgeizig, ich bin immer zufrieden. Hanne ist ehrgeizig, die möchte immer weiterkommen, und Hannes ist auch ehrgeizig.«
»Mein Sohn Johannes? Da irren Sie sich aber wohl. Was hat er denn in der letzten Zeit gearbeitet?«
»Er war Buchhalter bei einem Obsthändler.«
»Wohl in der Halle, wie Sie es nennen?«
»In der Halle, ja.«
»Nun, das ist doch noch kein sehr hochgeschraubter Ehrgeiz.«
»Aber zum Ersten hatte er doch einen ganz fabelhaften Posten in einer Eisenwarenfabrik angenommen!«
»In einer Eisenwarenfabrik?« Frau Wiebe wurde sehr hellhörig. »Wie heißt die Firma denn?«
»Das weiß ich nicht. Hanne wird es wissen. Hanne hat ihm doch zugeredet.«
»So! Hanne hat ihm zugeredet. Jedenfalls scheint sie wirklich ehrgeizig zu sein, ein bisschen gefährlich ehrgeizig ...«
»Hier, gnädige Frau, muss ich in den Laden«, sagte Marie Jäckel, die ganz unglückselig über ihr unbedachtesAusplaudern war. »Wenn Sie einen Augenblick warten wollen? Ich mache ganz schnell.«
»Sie brauchen sich nicht zu hetzen, Fräulein Jäckel«, sagte Frau Wiebe mit Würde. »Das Warten wird mir nicht lang werden. Sie haben mir reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben.«
Mit diesem Pfeil tief in ein ängstliches Herz hinein entließ sie die kleine Marie Jäckel. Und Marie war wirklich so verwirrt, dass sie all ihre Einkäufe durcheinanderbrachte und rote Knöpfe für das Kleid der Silberbraut gekauft hätte – die Verkäuferin musste es ihr erst sagen.
Als sie aber wieder aus dem Laden trat, fand sie Frau Wiebe freundlich und aufgeräumt vor. Und da sie zu jenen sanften Wesen gehörte, die nur zu froh sind, jede erlittene Kränkung sofort vergessen zu können (von Vergeben ganz zu schweigen), so biss sie sofort wieder auf den Haken, den ihr Frau Wiebe listig hinhielt.
»Mir ist eben eingefallen, Fräulein Jäckel«, sagte Frau Wiebe freundlich, »dass es ja wohl auch in der Markthalle war, wo mein Sohn verunglückte. Ich habe bisher nichts Näheres darüber erfahren können, ich hörte nur etwas
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