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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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erwachsen. Nächstes Jahr um diese Zeit würde sie verheiratet sein. Offenbar hatten sich ihre Lebensumstände also geändert. Konnten ihre Gedanken und Pläne dem nicht Rechnung tragen?
    Was wäre denn so schlecht daran, zwei Wohnorte zu haben? Der vergangene Winter war brutal gewesen, das musste selbst Joy zugeben. Warum nicht die Augen offen halten nach einer Wohnung in L.A. , wo sie dann das Frühjahrssemester verbringen könnten? Na gut, das College würde nicht begeistert sein, wenn er nur noch ein Semester pro Jahr unterrichten würde, aber vor dieser Reise hatte er die Idee gegenüber dem Dekan der Fakultät angesprochen, und dieser hatte gesagt, man werde, um ihn nicht ganz zu verlieren, vermutlich flexibel sein. Sobald sie wieder in L.A. waren, konnte Griffin seine Kontakte zur Filmwelt wiederbeleben, und sein Einkommen durch Drehbuchaufträge würde die Einbußen an der akademischen Front übersteigen. Aber für Joy war »zur Ruhe kommen« nicht dasselbe wie »verwurzelt sein«. Das Letztere bedeutete in ihren Augen, dass sie vor all den Jahren eine gute, richtige Entscheidung getroffen hatten. Sie liebte das Leben, das sie jetzt führten; außerdem war es das, worauf sie sich geeinigt hatten. Und was sollte aus ihrer Vollzeitstelle werden, wenn Griffin nur noch die halbe Zeit arbeitete? Erwartete er etwa, dass sie dasaß und ihm bei seiner Midlife-Crisis zusah?
    Bis dahin hatte Griffin seinen Standpunkt gut verteidigt. Er war ihr rhetorisch schon immer überlegen gewesen ( Gewinnst du eigentlich jemals eine Diskussion mit diesem Typen? ), und im Verlauf des letzten Jahrzehnts hatte er diese Fähigkeit in seinen Seminaren weiterentwickelt. Aber er musste zugeben, dass er nicht in Hochform war. Er hätte nie zulassen dürfen, dass der Streit sich über das Verhältnis zwischen Joy und Tommy hinaus ausweitete, und obwohl er darauf achtete, nicht zu laut zu werden, klang seine Stimme selbst für seine eigenen Ohren schrill und beinahe verzweifelt. Gewöhnlich hätte Joy an diesem Punkt frustriert aufgegeben, doch diesmal ging der Streit weiter. Es war wie ein Pokerspiel, bei dem sich das Bieten plötzlich beschleunigte und die Spieler den Einsatz ständig erhöhten, anstatt ihre Karten aufzudecken, bis schließlich mehr auf dem Tisch lag, als einer von ihnen sich leisten konnte zu verlieren – oder in diesem Fall vielleicht zu gewinnen. Joy beharrte darauf, dass der Tod seines Vaters der eigentliche Grund für die augenblickliche Malaise war, und ihre standhafte Weigerung, von der Behauptung dieses kausalen Zusammenhangs abzurücken, hatte ihn aus der Bahn geworfen. Ja, ehrlich gesagt, ließ ihn die Chronologie der Ereignisse insgeheim stutzen: Der Gedanke, zurück nach L.A. zu gehen, hatte sich tatsächlich nicht allzu lange nachdem der Wagen seines Vaters auf der Raststätte gefunden worden war, in ihm festgesetzt. Seitdem hatte er sich intensiver um Drehbucharbeiten bemüht und Sid alle paar Wochen angerufen, um ihn zu fragen, ob er von irgendwelchen Projekten gehört habe, für die er der richtige Mann wäre. Diese Anrufe tätigte er nur, wenn Joy nicht da war, aber sie tauchten natürlich als Ferngespräche auf der Telefonrechnung auf, und sie hatte einfach zwei und zwei zusammengezählt. Und er konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie wütend war, weil er beim Dekan der Fakultät diesen Versuchsballon hatte steigen lassen, ohne die Sache zuvor mit ihr zu besprechen. Warum hatte er das getan? Weil er ziemlich sicher war, dass sie von der Idee nichts halten und vielleicht sogar vorbeugend ihr Veto einlegen würde. Also hatte er es getan, ohne sie einzuweihen.
    Widerwillig musste Griffin in Erwägung ziehen, er könnte im Unrecht sein. Ihre Anklage war vielleicht nicht wasserdicht, aber eigentlich gut fundiert, wogegen seine Verteidigung lediglich geschickt war, ein rhetorisches Kunstwerk, das auf der Spitze einer Nadel balancierte. Panisch versuchte er, festeren Boden unter den Füßen zu bekommen. Wenn er ein paar Geheimnisse im Hinblick auf Telefongespräche mit seinem Agenten und Unterhaltungen mit seinem Dekan hatte, was war dann mit dem Knaller, den sie all die Jahre unter Verschluss gehalten hatte? Schließlich war nicht er derjenige, der sich in jemand anders verliebt hatte, sondern sie. Und tatsächlich gingen ihm dieses Wissen und die Einzelheiten, die er kannte, wie in einer Endlosschleife immerfort durch den Kopf, als wäre es die Schlüsselszene in einem Drehbuch, die aus dem Gleichgewicht war

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