Diese alte Sehnsucht Roman
gewinnbaren Teil des gestrigen Streits gewann. Das war der Dreh- und Angelpunkt von Joys Anklage: dass seine Eltern, trotz ihrer physischen Abwesenheit, sich ebenso in ihr gemeinsames Leben eingemischt hatten wie ihre und dass er das auf eine verdrehte Weise auch wollte. Wenn er ihr vor Augen führen konnte, dass sie in diesem Punkt unrecht hatte, würde ihre gesamte Beweisführung vielleicht zusammenbrechen.
Außerhalb des Dorfs war der Nebel womöglich sogar noch dichter, und Griffins Haar war inzwischen so nass, als hätte er eben geduscht. Die Scheibenwischer verbesserten die Sicht ein wenig, aber die Scheinwerfer machten, selbst abgeblendet, die Sache nur schlimmer. Alle fünfhundert Meter oder so kam er an einem Briefkasten neben einem abzweigenden Feldweg vorbei, wo er wenden und zurück zum Dorf fahren konnte, doch da er nicht einmal sich selbst gegenüber unentschlossen wirken wollte, behielt er die Richtung fürs Erste einfach bei. Wenig später fuhr er unter einer Schnellstraße – der Route 6, wie er annahm – hindurch, was erklärte, warum er noch immer nicht am Strand war. Wenn diese Straße einigermaßen gerade verlief, würde er nach zwei, drei Kilometern die Atlantikküste erreichen. Ein entlegenerer Ort war kaum vorstellbar, besonders zu dieser Tageszeit, bei diesem Wetter. Dort würde er auf keinen Fall gestört werden.
FRAU
Du willst, dass es hier um einen einzigen Tag geht – den Tag, an dem du mich so unglücklich gesehen hast –, aber es geht nicht um einen Tag. Du bist jeden Tag unglücklich, und es wird immer schlimmer. Du bist ein kongenital unglücklicher Mensch.
MANN
( unterdrückt seine Gefühle ) Ich bin nie glücklich? Gestern Abend war ich nicht glücklich?
FRAU
Gut, gestern Abend warst du für ein paar kurze Stunden glücklich. Aber du ziehst dich immer zurück, Jack. Als hättest du Angst, dass das Glück nicht lange währt. Als würde es dir jemand stehlen, wenn du zugeben würdest, dass du glücklich bist. ( Sie hält inne, während er darüber nachdenkt. ) Ja, es gab eine Zeit, als ich mich Tommy innerlich zugewandt habe, und ja, es hat mich unglücklich gemacht. Aber ich habe es überwunden. Ich habe das Unglück überwunden.
KAMERA AUF DIE SPIEGELUNG IM GLAS
Er, im Vordergrund, wird unscharf, während sie in den Fokus kommt.
FRAU
Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte, dein Unglück zu überwinden. Ich hab’s weiß Gott versucht. Es hat mich vollkommen erschöpft.
MANN
( tief getroffen ) Vielleicht solltest du damit aufhören.
FRAU
( unglücklich, mit abgewandtem Blick ) Das habe ich. Das ist
es, was du in den vergangenen Wochen gespürt hast: dass ich damit aufgehört habe.
ABBLENDE
Kongenital unglücklich. Das war natürlich nicht ihr Wort. Vierunddreißig Jahre lang hatte er es nie aus ihrem Mund gehört – bis gestern. Aber Tommy liebte dieses Wort, auch wenn Griffin jedes Mal die Schreibweise – kongental oder kongennital – korrigieren musste. (»Denk einfach an Genitalien«, lautete sein Rat, worauf Tommy erwiderte: »Ich denke aber nicht gern an Genitalien. Lieber schreibe ich es falsch.«) Zweifellos hatte er es gestern gebraucht, als Griffin unter der Dusche gestanden und Joy ihn zurückgerufen hatte, um zu erklären, warum sie nicht mitkommen würde nach L.A. Griffin konnte sich vorstellen, wie das Gespräch verlaufen war: Joy hatte ihm anvertraut, dass ihre Ehe den Bach runterging, dass sie nur noch selten miteinander schliefen, dass seine unterschwellige Unzufriedenheit sich ins geradezu Pathologische gesteigert hatte, dass er nun schon beinahe ein ganzes Jahr lang mit der Asche seines Vaters im Kofferraum herumfuhr. Und weil Tommy letzten Endes Griffins Freund war, hatte er ihr geraten, nichts zu überstürzen. »Schätzchen, das ist doch alles nichts Neues. Dieser Mann ist schon immer kongenital unzufrieden, und er merkt es nicht mal. Erinnerst du dich an seine Häuser-Kategorien, damals, als ihr ein Haus gesucht habt? ›Können wir uns nicht leisten‹ und ›Möchte ich nicht geschenkt haben‹. Sag bloß nicht, das ist nicht typisch Griff. Das ist der Mann, den du geheiratet hast, und dabei hättest du mich haben können, den immer fröhlichen Tommy.«
Unwillkürlich musste Griffin über dieses imaginierte Gespräch lächeln: Er kam nicht gut dabei weg, selbst wenn er es war, der sich das ausdachte. Aber es stimmte, dass er damals das Mantra seiner Eltern übernommen hatte. Tommy und Joy hatten sich ständig darüber
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