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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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vortastete – »… beinahe schäme.«
    Am folgenden Tag aber war sie wieder die alte. »Aber sie ist nicht brillant, oder?«, sagte sie und starrte ins Leere. Sie hatten eine Stunde schweigend dagesessen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. »Ich glaube nicht, dass sie zurück auf die Universität gehen wird.«
    Griffin war sofort wütend. »Sie ist hochintelligent. Und was noch wichtiger ist: Sie ist glücklich , Mom. Sie wird den Mann heiraten, der sie liebt und den sie ebenfalls liebt.«
    »Glücklich«, wiederholte sie, fing seinen Blick auf und hielt ihn fest. »Nur sehr dumme Menschen sind glücklich.«
    Ein paar kurze Stunden, dachte Griffin. Länger hatte sie nicht gebraucht, um über Liebenswürdigkeit im Allgemeinen und die ihrer Enkelin im Besonderen nachzudenken und sie als eine der Kardinaltugenden zu verwerfen.
    Danach sprachen sie nicht mehr über Laura, doch er spürte die gespenstischen Spuren, die ihr Besuch hinterlassen hatte, und wenn er sich nicht täuschte, spürte seine Mutter sie ebenfalls. Ihr Verfall schien sich zu beschleunigen, auch wenn sie in den langen Tagen, die nun folgten, mehrmals lebhafter wurde, ganz wie die Ärzte es vorausgesagt hatten. Die Gipfel waren jedoch nicht mehr so hoch, die Täler dafür um so tiefer. Das Morphium, das sie in immer größeren Dosen für ihre Atmung brauchte, machte alles seltsam und seltsamer. Jedes Mal wenn sie es bekommen hatte, ging ihr Atem langsamer, und sie wurde ruhiger, aber irgendwie nicht friedlicher.
    »Sie kämpft gegen etwas an«, sagte eine der Schwestern. »Das ist in diesem Stadium nicht ungewöhnlich. Wir werden vielleicht nie erfahren, worum es geht.«
    Wenn sie es zuließ, las er ihr vor; sonst sahen sie lustlos fern, bis das Morphium sie übermannte, und dann überarbeitete er seine Geschichte. Zusammen mit den kleinen, rhythmischen Geräuschen dieses Krankenhauszimmers machte irgendetwas am Zustand seiner Mutter die Geschichte sehr viel zugänglicher als im Sommer zuvor auf dem Cape. Einmal allerdings wachte sie überraschend auf und wollte wissen, woran er so angestrengt arbeite. »Ach, die«, schnaubte sie, als er es ihr sagte, offenbar enttäuscht über die Wahl seines Themas. Er sagte, sie sei ihm behilflich gewesen, denn er dachte, das würde sie freuen. »Du hast mir im letzten Juni erzählt, dass das kleine Mädchen der Brownings Asthma hatte und dass Peter in Vietnam gefallen ist.« Doch sie behauptete, sie könne sich überhaupt nicht an dieses Gespräch erinnern. »Woher soll ich wissen, was aus diesen Leuten geworden ist?«, sagte sie, als er darauf beharrte. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Die übliche Vorgehensweise seiner Mutter bestand nicht darin, Unwissenheit zu gestehen, sondern ein Wissen zu behaupten, das sie nicht besaß.
    Weihnachten rückte näher, und es machte sich eine von schlaflosen Nächten und Cafeteria-Essen geförderte Erschöpfung bemerkbar: Griffin spürte, dass sein ohnehin schwacher Zugriff auf die Realität erlahmte, als hätte man auch ihm Morphium verabreicht. Er schlief, die Browning-Geschichte auf dem Schoß, ein, wenn seine Mutter einschlief, und träumte heftig. Mehr als einmal erwachte er und sah die Augen seiner Mutter auf sich gerichtet. Um ihre Lippen spielte ein rätselhaftes Lächeln. »Du bist nicht der Einzige, der eine Geschichte zu erzählen hat«, sagte sie eines Nachmittags.
    »Da hast du sicher recht«, antwortete er. Er wünschte sich nicht gerade, der Empfänger irgendwelcher morphiuminduzierter Offenbarungen zu werden, und die Schwestern hatten ihn ermahnt, keine kontroversen Themen anzuschneiden. Er hoffte also, sie werde nicht darauf zurückkommen, doch ein paar Minuten später sagte sie: »Ich wette, du weißt nicht, dass dein Vater und ich bis zu seinem Ende ein Paar waren.«
    Das, stellte sich heraus, war nur die erste Salve, ein Schuss vor seinen Bug, der Anfang dessen, was er in den kommenden Tagen insgeheim als die Morphiumgeschichte seiner Mutter bezeichnete. Sie hatte jetzt ständig Atemnot und erzählte die Geschichte auf die einzige Weise, die ihr blieb: in kurzen Fortsetzungsfolgen, wie bei den Comicstrips in alten Wochenendbeilagen. Nach jeder Lieferung schloss sie die Augen und schlief oder tat, als schliefe sie, und ließ ihn das Gesagte verdauen und enträtseln.
    Der wahre Grund, warum Claudia seinen Vater verlassen habe, sagte sie nun, sei die Tatsache, dass sie – seine Mutter – und er noch immer miteinander geschlafen hätten.

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