Diese alte Sehnsucht Roman
Das Gerüst der beiden Geschichten war so ziemlich dasselbe, also war es letztlich eine Frage der Plausibilität, der inneren Logik der jeweiligen Geschichte.
Griffin gestand es nicht gern ein, aber in einer Hinsicht war die Morphiumgeschichte ein wenig glaubwürdiger. Als seine Mutter ihm in der ersten Version mit großer Befriedigung erzählt hatte, wie das katastrophale Jahr seines Vaters in Amherst verlaufen war, hatte er – der Veteran aus tausend Kämpfen gegen die Einwände der Studios – darauf hingewiesen, sie könne unmöglich wissen, was sie zu wissen behauptete. Sein Vater lebte an einem Ort und sie an einem anderen, und selbst mit einem gewaltigen akademischen Spionagenetz wäre ihre Geschichte nichts weiter gewesen als ein Flickenteppich aus Informationen vom Hörensagen. Was sein Vater gedacht hatte, als er erst die Gliederung von Claudias Dissertation entworfen, dann die Einleitung verfasst und schließlich, alle Vorsicht fahren lassend, die Arbeit ganz geschrieben hatte, konnte nur er selbst wissen, und er hätte es ihr gewiss nicht erzählt. Wenn aber an der Morphiumgeschichte etwas dran war, dann war seine Mutter tatsächlich als Augenzeugin in Amherst gewesen. Wenn sie wirklich noch ein Paar gewesen waren, dann stammte diese Geschichte nicht aus zweiter Hand, sondern beruhte auf eigenen, wenn auch sporadischen, Beobachtungen. Daher erschienen die intimen Bekenntnisse seines Vaters aus dieser Zeit irgendwie schlüssig. Doch wenn sie ihn regelmäßig besucht hatte, konnte sein Vater nicht einsam gewesen sein, und wenn er nicht einsam gewesen war, dann hatte die Sehnsucht nach Claudia ihn nicht aus dem inneren Gleichgewicht gebracht, und wenn er nicht aus dem inneren Gleichgewicht geraten war, warum hatte er dann ihre Dissertation geschrieben? Hatte er sie denn überhaupt geschrieben?
In beinahe jeder anderen Hinsicht erwies sich die erste Geschichte seiner Mutter als glaubwürdiger. Ihre allgemeine Stoßrichtung – Sieh, wie tief dein Vater gefallen ist, als ich nicht da war, um auf ihn achtzugeben – war typisch. Nicht nur für sie, sondern für jede andere Frau, die auf ähnliche Weise ausgewechselt worden war. Ihre innere Logik stimmte, und der Augenschein bestätigte sie. Griffin hatte seinen Vater während dessen Jahr in Amherst nicht besucht, hatte ihn aber kurz nach seiner Rückkehr gesehen und konnte sich deutlich an seine körperliche und seelische Verfassung erinnern: Seine Gesundheit war ruiniert, das Nervensystem angeschlagen. Abgemagert, krank, erschöpft – er hatte tatsächlich ausgesehen wie ein entsetzlich einsamer Mann, der den Boden unter den Füßen verloren hatte. Gewiss, es war das Bild, auf das die schadenfrohe Geschichte seiner Mutter ihn vorbereitet hatte, aber trotzdem. Wenn er der Morphiumgeschichte glaubte und seine Eltern den besten Sex ihres Lebens gehabt hatten, worauf waren dann diese Fahrigkeit und Abgezehrtheit zurückzuführen? Auf ein Übermaß an fleischlicher Lust? Und wenn er und Griffins Mutter noch immer eine leidenschaftliche Beziehung hatten, warum hätte er eine bequeme Professur aufgeben und schlechtere Jobs annehmen sollen? Und warum hätte er das alles vor seinem Sohn geheimhalten sollen?
Doch eben dies war natürlich der ganze Sinn der zweiten Version: Du hast uns nie gekannt. Du dachtest es zwar, aber da hast du dich getäuscht. Unser gemeinsames Leben war ein wunderbares Geheimnis, selbst für dich. Und das war auch das ganze Problem. Das Stärkste an der Morphiumgeschichte seiner Mutter war ihr Bedürfnis, sie zu erzählen. Warum musste sie an einem Punkt in ihrem Leben, an dem die meisten Menschen ihre Seele erleichtern wollen, unbedingt lügen? Wenn so wenig Zeit blieb, warum dann den letzten Rest der Kraft darauf verwenden, eine so immense Lüge zu erfinden? Was konnte es ihr bedeuten, wie er über die Ehe seiner Eltern dachte? Nein, das alles war Unsinn, und der entscheidende Beweis war: Wenn die Morphiumgeschichte ganz oder in Teilen stimmte, warum hatte seine Mutter dann vor ihrer Erkrankung so unnachgiebig darauf bestanden, dass seine Asche auf der einen und ihre auf der anderen Seite des Capes verstreut werden sollte? Wenn ihre beiden Leben bis zum Ende miteinander verbunden gewesen waren, warum wollte sie dann nicht, dass ihre Asche sich miteinander vermischte?
Dennoch, je näher sie dem Ende kam – dem Ende der Morphiumgeschichte und ihres Lebens –, desto mehr wollte er, dass die Geschichte wahr war, und wenn schon nicht ganz
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