Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
Vom Netzwerk:
wahr, so doch auch nicht ganz falsch, nicht ausschließlich dem Morphium zuzuschreiben. Er hoffte auf ein tragfähiges Detail, das dieses knarzende Gebäude stützen und die oft allzu verschwommenen Motive der Protagonisten erläutern könnte. Wenn sie ihm beispielsweise gesagt hätte, sie sei dabei gewesen, als sein Vater auf dem Raststättenparkplatz gestorben sei, sie hätten damals beschlossen, noch einmal aufs Cape zu fahren, und gehofft, einen kleinen Bungalow zu finden, dann hätte er ihr geglaubt, und zwar nicht nur, weil er ihr nie irgendwelche Einzelheiten darüber erzählt hatte, wie sein Vater aufgefunden worden war, ebenso wenig wie von seinem Verdacht, dass eine Frau bei ihm gewesen war. Gut, es hätte weiter einige Gründe für Zweifel gegeben (wenn seine Mutter die geheimnisvolle Fahrerin gewesen war, warum war sie dann verschwunden?), aber – jedenfalls aus Sicht eines Schriftstellers – auch gute Gründe, ihr zu glauben. Denn ein solches Ende wäre auf seine Weise perfekt gewesen, symmetrisch, eine Widerspiegelung des Anfangs. Eine Liebesgeschichte.
    Das Seltsamste war vielleicht, wie zufrieden seine Mutter war, als sie die Geschichte zu Ende erzählt hatte. Die Dringlichkeit, diese treibende Kraft, war verschwunden, als die Stimme seiner Mutter erstarb. Ob er ihr glaubte oder nicht, schien sie nicht mehr zu kümmern, und kurz darauf verfiel sie für die drei Tage, die ihr noch blieben, in beinahe vollständiges Schweigen. »Wann ist Weihnachten?«, fragte sie einmal, und er musste nachdenken.
    Er hatte die Zeit nach ihrer Geschichte und dem Schnee bemessen, der bis dahin fast das ganze Fenster bedeckte und den Raum auch bei Tag verdunkelte.
    »Übermorgen«, sagte er.
    »Dann wirst du nach Hause gehen«, sagte sie.
    »Nein, ich werde Weihnachten hierbleiben«, antwortete er. »Glaubst du wirklich, ich würde dich allein lassen?«
    »Glaubst du«, fragte sie nüchtern, »wenn du Tag für Tag hier herumsitzt, bin ich weniger allein?«
    Da kam ihm dann allerdings der Gedanke, er könnte nach Hause gehen, und das hätte er vielleicht auch getan, wenn er noch gewusst hätte, wo sein Zuhause war, doch er wusste es nicht mehr, und so blieb er. Am Morgen des ersten Weihnachtstages fragte sie ihn, ob er sich erinnern könne, dass er als Kind unter den Weihnachtsbaum gekrochen sei und von unten die Lichter betrachtet habe. Und später am Nachmittag: »Dann … ist deine Ehe jetzt am Ende«, und er sagte, ja, so sei es wohl. Danach sagte sie nur noch einen Satz. »Er wäre hier«, versicherte sie ihm lächelnd, »wenn er nicht tot wäre.«
    Im Gegensatz zu sonst war ihr Lächeln weder schief noch anzüglich. Es war eher glücklich. Und darum sagte Griffin: »Ich weiß, Mom. Ich weiß.«
    In einem immerhin hatte sie recht: Das verdammte Gör war ein Ungeheuer.
    Andy wollte nicht mit einem Kind auf den Schultern Volleyball spielen und brachte den Jungen zu seiner Mutter zurück, doch davon wollte der nichts wissen. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und Applaus zu bekommen, hatte ihm gefallen, und so folgte er Andy wieder auf das Spielfeld, reckte die Arme und verlangte, wieder seinen Platz auf den Schultern einzunehmen. Die anderen Kinder waren inzwischen von ihren Eltern fortgelockt worden und würden bald zu Bett gebracht werden. Einige der kleineren waren bereits eingeschlafen, andere rieben sich die Augen.
    Als er sah, dass der Junge wieder mitten im Geschehen war, nahm Andy ihn an der Hand und wollte ihn sanft zur Seitenlinie führen, doch daraus wurde nichts. Der kleine Scheißkerl riss sich los, ballte die Faust und schlug dem Bräutigam mit voller Kraft in den Unterleib.
    Anstatt einzuschreiten, das Bürschchen zu packen und einfach davonzutragen, ging seine Mutter in die Knie und verlegte sich aufs Bitten. »Jetzt komm, Justin, komm zu Mommy. Siehst du nicht, dass du das Spiel aufhältst? Und du hast dem netten Mann wehgetan. Jetzt komm, mein Schätzchen.« Doch Justin hatte andere Pläne. Seine ursprüngliche Strategie hatte schon einmal funktioniert, und er sah keinen Grund, warum sie nicht noch einmal wirken sollte. Er ignorierte seine Mutter, setzte sich mitten auf das Spielfeld und schob die Unterlippe vor.
    Ich wette fünf Dollar, dass sie aufgibt , sagte seine Mutter, und das war genau das, was die Frau tat: Sie wandte sich wieder ihrer Unterhaltung zu. Sag bloß nicht, dass du ihm nicht zu gern den Hintern versohlen würdest.
    Ich gehe jetzt schlafen , sagte er. Bleib doch noch

Weitere Kostenlose Bücher